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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Hände, wenn auch nur für einen Augenblick, mit Nothwendigkeit in Anspruch
nimmt und daher zu der gleichzeitig zu bewerkstelligenden Festhaltung des Ge¬
wandes die Beine benutzen läßt, eine Art zu halten, die sich wiederum nur für
wenige Augenblicke denken läßt, und die anderweitiger Unterstützung bedarf, wenn
nicht das Gewand dennoch bald sinken soll. Welches war nun diese besondere
Veranlassung? Die Antwort ergiebt sich aus den thatsächlichen Verhältnissen:
Ein Weib mit entblößtem Oberkörper sucht das um den Unterkörper nur lose
geschlungene Gewand vor gänzlichem Fallen zu schützen -- nur die unerwünschte
Gegenwart eines Mannes kann sie veranlassen, sich vor gänzlicher Enthüllung
bewahren zu wollen. Ihre Bewegung, um das Gewand zu halten, ist eine
außergewöhnliche -- der Anblick des Mannes muß sie so unerwartet getroffen
haben, daß die Hände noch keine Zeit hatten, der Gewandhaltung zu Hilfe zu
kommen; sie müssen in Folge des Ueberraschenden des Allgenblicks noch ander¬
weit in Anspruch genommen sein. Delikt man sich den Mann in unmittelbarer
Nähe, so ergiebt sich eine direkte Abwehr, und wir gelangen zu einer Gruppe,
deren eine Hülste verloren wäre -- das ist die früher von uns vertretene An¬
sicht, die jedoch damals ausdrücklich nur als ein Versuch aufgetreten ist, und
mit der bewußterweise das Gebiet der Hypothese betreten wurde. Die An¬
nehmbarkeit oder Nichtannehmbarkeit dieser Hypothese kann jedoch keinerlei Rück¬
wirkung aus die Sicherheit der vorangehenden Schlußfolgerung ausüben. Es
ließe sich aber auch denken, daß der Mann nicht in der Nähe vorauszusetzen
ist, daß also keine Gruppe vorgelegen hat, daß die die Handlung veranlassende
Persönlichkeit zu ergänzen der Phantasie des Beschauers überlassen bleibt, wie
es bei so vielen anderen dramatisch bewegten Statuen der Fall ist. Dann ließe
sich die Situation so denken: ein unerwünschter Anblick bewirkt die schützende
Bewegung; rasch wird das fallende Gewand durch die Spannung mittels der
Beine gehalten, um durch die nach ihm hingreifende, es noch nicht berührende
rechte Hand im nächsten Augenblick einen sicheren Halt zu gewinnen. Die linke
Hand dagegen ist, dem ersten Eindrucke folgend, abwehrend und schützend er¬
hoben, so daß der Oberarm sich in der Schulterlinie wagerecht, aber etwas
nach vorn sich vorbeugend, dann der Unterarm sich mit der abwehrenden Hand
wiederum etwas nach vorn neigend erhebt -- die erste, selbstverständlich, daher
unwillkürlich eintretende, zugleich abwehrende und schützende Bewegung, einem
unerfreulichen Anblick, einer unwillig bemerkten Annäherung gegenüber, selbst
wenn sich der Nahende noch in ziemlicher Entfernung befindet.

Halten wir diese Annahme als das schließlich gefundene Grundmotiv fest,
so ergiebt sich zwar leicht, wie sie jede Bewegung im Einzelnen, wie sie die
Gesammthaltung des Körpers vollständig erklärt und sie als eine wohl motivirte,
die Nothwendigkeit des inneren Zusammenhangs offenbarende, die ganze Gestalt


Hände, wenn auch nur für einen Augenblick, mit Nothwendigkeit in Anspruch
nimmt und daher zu der gleichzeitig zu bewerkstelligenden Festhaltung des Ge¬
wandes die Beine benutzen läßt, eine Art zu halten, die sich wiederum nur für
wenige Augenblicke denken läßt, und die anderweitiger Unterstützung bedarf, wenn
nicht das Gewand dennoch bald sinken soll. Welches war nun diese besondere
Veranlassung? Die Antwort ergiebt sich aus den thatsächlichen Verhältnissen:
Ein Weib mit entblößtem Oberkörper sucht das um den Unterkörper nur lose
geschlungene Gewand vor gänzlichem Fallen zu schützen — nur die unerwünschte
Gegenwart eines Mannes kann sie veranlassen, sich vor gänzlicher Enthüllung
bewahren zu wollen. Ihre Bewegung, um das Gewand zu halten, ist eine
außergewöhnliche — der Anblick des Mannes muß sie so unerwartet getroffen
haben, daß die Hände noch keine Zeit hatten, der Gewandhaltung zu Hilfe zu
kommen; sie müssen in Folge des Ueberraschenden des Allgenblicks noch ander¬
weit in Anspruch genommen sein. Delikt man sich den Mann in unmittelbarer
Nähe, so ergiebt sich eine direkte Abwehr, und wir gelangen zu einer Gruppe,
deren eine Hülste verloren wäre — das ist die früher von uns vertretene An¬
sicht, die jedoch damals ausdrücklich nur als ein Versuch aufgetreten ist, und
mit der bewußterweise das Gebiet der Hypothese betreten wurde. Die An¬
nehmbarkeit oder Nichtannehmbarkeit dieser Hypothese kann jedoch keinerlei Rück¬
wirkung aus die Sicherheit der vorangehenden Schlußfolgerung ausüben. Es
ließe sich aber auch denken, daß der Mann nicht in der Nähe vorauszusetzen
ist, daß also keine Gruppe vorgelegen hat, daß die die Handlung veranlassende
Persönlichkeit zu ergänzen der Phantasie des Beschauers überlassen bleibt, wie
es bei so vielen anderen dramatisch bewegten Statuen der Fall ist. Dann ließe
sich die Situation so denken: ein unerwünschter Anblick bewirkt die schützende
Bewegung; rasch wird das fallende Gewand durch die Spannung mittels der
Beine gehalten, um durch die nach ihm hingreifende, es noch nicht berührende
rechte Hand im nächsten Augenblick einen sicheren Halt zu gewinnen. Die linke
Hand dagegen ist, dem ersten Eindrucke folgend, abwehrend und schützend er¬
hoben, so daß der Oberarm sich in der Schulterlinie wagerecht, aber etwas
nach vorn sich vorbeugend, dann der Unterarm sich mit der abwehrenden Hand
wiederum etwas nach vorn neigend erhebt — die erste, selbstverständlich, daher
unwillkürlich eintretende, zugleich abwehrende und schützende Bewegung, einem
unerfreulichen Anblick, einer unwillig bemerkten Annäherung gegenüber, selbst
wenn sich der Nahende noch in ziemlicher Entfernung befindet.

Halten wir diese Annahme als das schließlich gefundene Grundmotiv fest,
so ergiebt sich zwar leicht, wie sie jede Bewegung im Einzelnen, wie sie die
Gesammthaltung des Körpers vollständig erklärt und sie als eine wohl motivirte,
die Nothwendigkeit des inneren Zusammenhangs offenbarende, die ganze Gestalt


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[0072] Hände, wenn auch nur für einen Augenblick, mit Nothwendigkeit in Anspruch nimmt und daher zu der gleichzeitig zu bewerkstelligenden Festhaltung des Ge¬ wandes die Beine benutzen läßt, eine Art zu halten, die sich wiederum nur für wenige Augenblicke denken läßt, und die anderweitiger Unterstützung bedarf, wenn nicht das Gewand dennoch bald sinken soll. Welches war nun diese besondere Veranlassung? Die Antwort ergiebt sich aus den thatsächlichen Verhältnissen: Ein Weib mit entblößtem Oberkörper sucht das um den Unterkörper nur lose geschlungene Gewand vor gänzlichem Fallen zu schützen — nur die unerwünschte Gegenwart eines Mannes kann sie veranlassen, sich vor gänzlicher Enthüllung bewahren zu wollen. Ihre Bewegung, um das Gewand zu halten, ist eine außergewöhnliche — der Anblick des Mannes muß sie so unerwartet getroffen haben, daß die Hände noch keine Zeit hatten, der Gewandhaltung zu Hilfe zu kommen; sie müssen in Folge des Ueberraschenden des Allgenblicks noch ander¬ weit in Anspruch genommen sein. Delikt man sich den Mann in unmittelbarer Nähe, so ergiebt sich eine direkte Abwehr, und wir gelangen zu einer Gruppe, deren eine Hülste verloren wäre — das ist die früher von uns vertretene An¬ sicht, die jedoch damals ausdrücklich nur als ein Versuch aufgetreten ist, und mit der bewußterweise das Gebiet der Hypothese betreten wurde. Die An¬ nehmbarkeit oder Nichtannehmbarkeit dieser Hypothese kann jedoch keinerlei Rück¬ wirkung aus die Sicherheit der vorangehenden Schlußfolgerung ausüben. Es ließe sich aber auch denken, daß der Mann nicht in der Nähe vorauszusetzen ist, daß also keine Gruppe vorgelegen hat, daß die die Handlung veranlassende Persönlichkeit zu ergänzen der Phantasie des Beschauers überlassen bleibt, wie es bei so vielen anderen dramatisch bewegten Statuen der Fall ist. Dann ließe sich die Situation so denken: ein unerwünschter Anblick bewirkt die schützende Bewegung; rasch wird das fallende Gewand durch die Spannung mittels der Beine gehalten, um durch die nach ihm hingreifende, es noch nicht berührende rechte Hand im nächsten Augenblick einen sicheren Halt zu gewinnen. Die linke Hand dagegen ist, dem ersten Eindrucke folgend, abwehrend und schützend er¬ hoben, so daß der Oberarm sich in der Schulterlinie wagerecht, aber etwas nach vorn sich vorbeugend, dann der Unterarm sich mit der abwehrenden Hand wiederum etwas nach vorn neigend erhebt — die erste, selbstverständlich, daher unwillkürlich eintretende, zugleich abwehrende und schützende Bewegung, einem unerfreulichen Anblick, einer unwillig bemerkten Annäherung gegenüber, selbst wenn sich der Nahende noch in ziemlicher Entfernung befindet. Halten wir diese Annahme als das schließlich gefundene Grundmotiv fest, so ergiebt sich zwar leicht, wie sie jede Bewegung im Einzelnen, wie sie die Gesammthaltung des Körpers vollständig erklärt und sie als eine wohl motivirte, die Nothwendigkeit des inneren Zusammenhangs offenbarende, die ganze Gestalt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/72>, abgerufen am 19.05.2024.