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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Das formale Element in der Musik.

Eilte wichtige Priueipienfrage beschäftigt immer wieder aufs neue die musi¬
kalischen Aesthetiker und wird bald in diesem bald in jenem Sinne beantwortet:
die Frage nach dem Inhalte der musikalischen Kunstwerke oder -- insofern
dieselbe nothwendigerweise auch mit der Form sich beschäftigen muß, da eine
starke Partei Inhalt und Form identificirt -- : die Frage nach dem Musikalisch-
Schönen. Mit einiger Heftigkeit ist der Streit der Meinungen darüber ^ ent¬
brannt seit dem ersten Erscheinen von Hanslicks Schrift vom Musikalisch-
Schönen (1854), doch ist die Spaltung selbst alt und muß es sein; denn da
der Musik die Fähigkeit, Stimmungen hervorzurufen, nicht abgesprochen werden
kann, auch von jeher zugeschrieben worden ist, so müssen und mußten die Aesthe¬
tiker in der Alternative schwanken, ob es Beruf der Musik sei, bestimmte von:
Komponisten intendirte Affecte zu erwecken, indem sie dieselben ihrer Dynamik
nach darstellt, oder ob die Kunst vielmehr dann die höchste Stufe der Voll¬
kommenheit erstiegen hat, wenn sie die Seele von der Erscheinungswelt weg in
die Welt der schaffenden Kräfte entrückt und sich nur nach den ihr immanenten
Schönheitsgesetzen gestaltet.

Aber nicht allein durch das kleine Häuflein derer geht der Riß, welche ans
edlem Wissensdurst nach dem innersten Wesen der Kunst fragen, sondern auch
durch die große Schar der schaffenden und interpretirenden Künstler, sowie
durch das Gros der Musik-Consumenten. Wir haben in der That zwei große
Parteien zu unterscheiden, deren eine in der Musik unter allen Umständen eine
außer dem Bereiche der Musik liegende Bedeutung, eine concrete Beziehung zu
bestimmten Affecten, zu seelischen Erlebnissen, ja wohl gar zu äußeren Ereig¬
nissen sucht, sei es nun, daß diese Beziehungen durch das mit der Musik ver¬
bundene Wort direct gegeben sind, wie im Liede, in der Cantate, der Oper,
oder daß ein Programm die fessellos schweifende Phantasie in bestimmte Bahnen
treibt, oder endlich auch, wie man dann ergänzend anzunehmen gezwungen ist,
daß der Componist versäumt hat, den durch seine Musik wiedergegebenen Ge¬
dankengang anderweit anzudeuten; in dem letzteren Falle sühlt sich wohl jeder
mit der Feder gut oder schlecht vertraute Anhänger dieser Richtung verpflichtet,
das, was er für die nicht ausgesprochene Intention des Componisten hält, zu
dessen besserem Verständniß auseinanderzusetzen. Einzelne unserer Musikzei¬
tungen bringen uns fast allwöchentlich wahre Monstra derartiger Analysen, und
Beethovens Symphonien, Sonaten und Quartette haben sich längst gefallen
lassen müssen, in dieser Weise mit und ohne Geist zerpflückt zu werden. Die


Das formale Element in der Musik.

Eilte wichtige Priueipienfrage beschäftigt immer wieder aufs neue die musi¬
kalischen Aesthetiker und wird bald in diesem bald in jenem Sinne beantwortet:
die Frage nach dem Inhalte der musikalischen Kunstwerke oder — insofern
dieselbe nothwendigerweise auch mit der Form sich beschäftigen muß, da eine
starke Partei Inhalt und Form identificirt — : die Frage nach dem Musikalisch-
Schönen. Mit einiger Heftigkeit ist der Streit der Meinungen darüber ^ ent¬
brannt seit dem ersten Erscheinen von Hanslicks Schrift vom Musikalisch-
Schönen (1854), doch ist die Spaltung selbst alt und muß es sein; denn da
der Musik die Fähigkeit, Stimmungen hervorzurufen, nicht abgesprochen werden
kann, auch von jeher zugeschrieben worden ist, so müssen und mußten die Aesthe¬
tiker in der Alternative schwanken, ob es Beruf der Musik sei, bestimmte von:
Komponisten intendirte Affecte zu erwecken, indem sie dieselben ihrer Dynamik
nach darstellt, oder ob die Kunst vielmehr dann die höchste Stufe der Voll¬
kommenheit erstiegen hat, wenn sie die Seele von der Erscheinungswelt weg in
die Welt der schaffenden Kräfte entrückt und sich nur nach den ihr immanenten
Schönheitsgesetzen gestaltet.

Aber nicht allein durch das kleine Häuflein derer geht der Riß, welche ans
edlem Wissensdurst nach dem innersten Wesen der Kunst fragen, sondern auch
durch die große Schar der schaffenden und interpretirenden Künstler, sowie
durch das Gros der Musik-Consumenten. Wir haben in der That zwei große
Parteien zu unterscheiden, deren eine in der Musik unter allen Umständen eine
außer dem Bereiche der Musik liegende Bedeutung, eine concrete Beziehung zu
bestimmten Affecten, zu seelischen Erlebnissen, ja wohl gar zu äußeren Ereig¬
nissen sucht, sei es nun, daß diese Beziehungen durch das mit der Musik ver¬
bundene Wort direct gegeben sind, wie im Liede, in der Cantate, der Oper,
oder daß ein Programm die fessellos schweifende Phantasie in bestimmte Bahnen
treibt, oder endlich auch, wie man dann ergänzend anzunehmen gezwungen ist,
daß der Componist versäumt hat, den durch seine Musik wiedergegebenen Ge¬
dankengang anderweit anzudeuten; in dem letzteren Falle sühlt sich wohl jeder
mit der Feder gut oder schlecht vertraute Anhänger dieser Richtung verpflichtet,
das, was er für die nicht ausgesprochene Intention des Componisten hält, zu
dessen besserem Verständniß auseinanderzusetzen. Einzelne unserer Musikzei¬
tungen bringen uns fast allwöchentlich wahre Monstra derartiger Analysen, und
Beethovens Symphonien, Sonaten und Quartette haben sich längst gefallen
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[0229] Das formale Element in der Musik. Eilte wichtige Priueipienfrage beschäftigt immer wieder aufs neue die musi¬ kalischen Aesthetiker und wird bald in diesem bald in jenem Sinne beantwortet: die Frage nach dem Inhalte der musikalischen Kunstwerke oder — insofern dieselbe nothwendigerweise auch mit der Form sich beschäftigen muß, da eine starke Partei Inhalt und Form identificirt — : die Frage nach dem Musikalisch- Schönen. Mit einiger Heftigkeit ist der Streit der Meinungen darüber ^ ent¬ brannt seit dem ersten Erscheinen von Hanslicks Schrift vom Musikalisch- Schönen (1854), doch ist die Spaltung selbst alt und muß es sein; denn da der Musik die Fähigkeit, Stimmungen hervorzurufen, nicht abgesprochen werden kann, auch von jeher zugeschrieben worden ist, so müssen und mußten die Aesthe¬ tiker in der Alternative schwanken, ob es Beruf der Musik sei, bestimmte von: Komponisten intendirte Affecte zu erwecken, indem sie dieselben ihrer Dynamik nach darstellt, oder ob die Kunst vielmehr dann die höchste Stufe der Voll¬ kommenheit erstiegen hat, wenn sie die Seele von der Erscheinungswelt weg in die Welt der schaffenden Kräfte entrückt und sich nur nach den ihr immanenten Schönheitsgesetzen gestaltet. Aber nicht allein durch das kleine Häuflein derer geht der Riß, welche ans edlem Wissensdurst nach dem innersten Wesen der Kunst fragen, sondern auch durch die große Schar der schaffenden und interpretirenden Künstler, sowie durch das Gros der Musik-Consumenten. Wir haben in der That zwei große Parteien zu unterscheiden, deren eine in der Musik unter allen Umständen eine außer dem Bereiche der Musik liegende Bedeutung, eine concrete Beziehung zu bestimmten Affecten, zu seelischen Erlebnissen, ja wohl gar zu äußeren Ereig¬ nissen sucht, sei es nun, daß diese Beziehungen durch das mit der Musik ver¬ bundene Wort direct gegeben sind, wie im Liede, in der Cantate, der Oper, oder daß ein Programm die fessellos schweifende Phantasie in bestimmte Bahnen treibt, oder endlich auch, wie man dann ergänzend anzunehmen gezwungen ist, daß der Componist versäumt hat, den durch seine Musik wiedergegebenen Ge¬ dankengang anderweit anzudeuten; in dem letzteren Falle sühlt sich wohl jeder mit der Feder gut oder schlecht vertraute Anhänger dieser Richtung verpflichtet, das, was er für die nicht ausgesprochene Intention des Componisten hält, zu dessen besserem Verständniß auseinanderzusetzen. Einzelne unserer Musikzei¬ tungen bringen uns fast allwöchentlich wahre Monstra derartiger Analysen, und Beethovens Symphonien, Sonaten und Quartette haben sich längst gefallen lassen müssen, in dieser Weise mit und ohne Geist zerpflückt zu werden. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/229>, abgerufen am 30.04.2024.