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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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puppten Nationalliberalen scheuen jene UnPopularität. Sie lieben die fort¬
schrittliche Küche, aber nicht die fortschrittlichen Köche, sie möchten dem deutschen
Volke die fortschrittliche Speise einflößen, aber sie möchten sie selber kochen.
Und weil sie fürchten, daß das deutsche Volk diese Speise nicht mag -- als
"Gesinnungsniedertracht" bezeichnete Herr Eugen Richter neulich den Widerwillen
gegen diese Speise -- so geben sie der Speise, die sie bereiten wollen, alle
möglichen Namen, die sie auf der politischen Speisekarte finden, uur uicht deu
richtigen. Dieses Unternehmen, wenn wir irgend richtig beurtheilen, was in den
Köpfen unseres Volkes vorgegangen ist und uoch vorgeht, muß klüglich scheitern.




Virunum.

Ruinen zu sehen ist uns etwas beinahe Alltägliches und regt nur in sel¬
tenen Fällen zu tiefer gehenden Betrachtungen an. Anders schon wirkt die
Vorstellung, daß da, wo jetzt nur Feld und Wiese und Wald sich breiten, einst
in den Häusern und Straßen einer Stadt sich ein buntes, mannigfaches Leben
geregt habe. Denn kaum faßbar erscheint uns, die wir an die Stetigkeit des
Culturfortschritts gewöhnt find, der Gedanke, unsere Städte könnten dereinst in
Schutt und Trümmer sinken, und das melancholische Zukunftsbild, daß Ma-
caulay entwirft, indem er uns einen Bewohner Neu-Seelands vorführt, der von
den halbzerstörten Pfeilern der Londonbridge hinüberschaut nach dem letzten
geborstenen Bogen von Se. Paul inmitten eines ungeheuren Ruinenfeldes, den
Resten der Weltstadt, die einst London hieß, dies Bild gilt uns für wenig mehr
als für das Spiel einer geistreichen Phantasie. Und sieht man näher zu, so
sind wirklich die Beispiele gänzlicher Verödung bedeutender Städte -- kleine
Niederlassungen können überall leicht verschwinden und sind in allen stürmischen
Zeiten untergegangen -- keineswegs so gar häufig. In den antik-classischen
Ländern überwiegt die Zahl derjenigen Orte, die an derselben Stelle uuter
wenig veränderten Namen fortdauern, doch bei weitem die der verschwundenen.
Niemals ist also hier die Continuität der Bevölkerung völlig unterbrochen, das
Andenken an die Vergangenheit völlig ausgelöscht worden. Auch in den einst
römischen Gegenden Deutschlands, in den Rhein- und Donaugebieten, bildet dies
die Regel. Die römischen Festungen zwar verfielen naturgemäß gewaltsamer
Zerstörung oder allmählicher Verödung mit dem Untergange des Reiches, das


puppten Nationalliberalen scheuen jene UnPopularität. Sie lieben die fort¬
schrittliche Küche, aber nicht die fortschrittlichen Köche, sie möchten dem deutschen
Volke die fortschrittliche Speise einflößen, aber sie möchten sie selber kochen.
Und weil sie fürchten, daß das deutsche Volk diese Speise nicht mag — als
„Gesinnungsniedertracht" bezeichnete Herr Eugen Richter neulich den Widerwillen
gegen diese Speise — so geben sie der Speise, die sie bereiten wollen, alle
möglichen Namen, die sie auf der politischen Speisekarte finden, uur uicht deu
richtigen. Dieses Unternehmen, wenn wir irgend richtig beurtheilen, was in den
Köpfen unseres Volkes vorgegangen ist und uoch vorgeht, muß klüglich scheitern.




Virunum.

Ruinen zu sehen ist uns etwas beinahe Alltägliches und regt nur in sel¬
tenen Fällen zu tiefer gehenden Betrachtungen an. Anders schon wirkt die
Vorstellung, daß da, wo jetzt nur Feld und Wiese und Wald sich breiten, einst
in den Häusern und Straßen einer Stadt sich ein buntes, mannigfaches Leben
geregt habe. Denn kaum faßbar erscheint uns, die wir an die Stetigkeit des
Culturfortschritts gewöhnt find, der Gedanke, unsere Städte könnten dereinst in
Schutt und Trümmer sinken, und das melancholische Zukunftsbild, daß Ma-
caulay entwirft, indem er uns einen Bewohner Neu-Seelands vorführt, der von
den halbzerstörten Pfeilern der Londonbridge hinüberschaut nach dem letzten
geborstenen Bogen von Se. Paul inmitten eines ungeheuren Ruinenfeldes, den
Resten der Weltstadt, die einst London hieß, dies Bild gilt uns für wenig mehr
als für das Spiel einer geistreichen Phantasie. Und sieht man näher zu, so
sind wirklich die Beispiele gänzlicher Verödung bedeutender Städte — kleine
Niederlassungen können überall leicht verschwinden und sind in allen stürmischen
Zeiten untergegangen — keineswegs so gar häufig. In den antik-classischen
Ländern überwiegt die Zahl derjenigen Orte, die an derselben Stelle uuter
wenig veränderten Namen fortdauern, doch bei weitem die der verschwundenen.
Niemals ist also hier die Continuität der Bevölkerung völlig unterbrochen, das
Andenken an die Vergangenheit völlig ausgelöscht worden. Auch in den einst
römischen Gegenden Deutschlands, in den Rhein- und Donaugebieten, bildet dies
die Regel. Die römischen Festungen zwar verfielen naturgemäß gewaltsamer
Zerstörung oder allmählicher Verödung mit dem Untergange des Reiches, das


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[0433] puppten Nationalliberalen scheuen jene UnPopularität. Sie lieben die fort¬ schrittliche Küche, aber nicht die fortschrittlichen Köche, sie möchten dem deutschen Volke die fortschrittliche Speise einflößen, aber sie möchten sie selber kochen. Und weil sie fürchten, daß das deutsche Volk diese Speise nicht mag — als „Gesinnungsniedertracht" bezeichnete Herr Eugen Richter neulich den Widerwillen gegen diese Speise — so geben sie der Speise, die sie bereiten wollen, alle möglichen Namen, die sie auf der politischen Speisekarte finden, uur uicht deu richtigen. Dieses Unternehmen, wenn wir irgend richtig beurtheilen, was in den Köpfen unseres Volkes vorgegangen ist und uoch vorgeht, muß klüglich scheitern. Virunum. Ruinen zu sehen ist uns etwas beinahe Alltägliches und regt nur in sel¬ tenen Fällen zu tiefer gehenden Betrachtungen an. Anders schon wirkt die Vorstellung, daß da, wo jetzt nur Feld und Wiese und Wald sich breiten, einst in den Häusern und Straßen einer Stadt sich ein buntes, mannigfaches Leben geregt habe. Denn kaum faßbar erscheint uns, die wir an die Stetigkeit des Culturfortschritts gewöhnt find, der Gedanke, unsere Städte könnten dereinst in Schutt und Trümmer sinken, und das melancholische Zukunftsbild, daß Ma- caulay entwirft, indem er uns einen Bewohner Neu-Seelands vorführt, der von den halbzerstörten Pfeilern der Londonbridge hinüberschaut nach dem letzten geborstenen Bogen von Se. Paul inmitten eines ungeheuren Ruinenfeldes, den Resten der Weltstadt, die einst London hieß, dies Bild gilt uns für wenig mehr als für das Spiel einer geistreichen Phantasie. Und sieht man näher zu, so sind wirklich die Beispiele gänzlicher Verödung bedeutender Städte — kleine Niederlassungen können überall leicht verschwinden und sind in allen stürmischen Zeiten untergegangen — keineswegs so gar häufig. In den antik-classischen Ländern überwiegt die Zahl derjenigen Orte, die an derselben Stelle uuter wenig veränderten Namen fortdauern, doch bei weitem die der verschwundenen. Niemals ist also hier die Continuität der Bevölkerung völlig unterbrochen, das Andenken an die Vergangenheit völlig ausgelöscht worden. Auch in den einst römischen Gegenden Deutschlands, in den Rhein- und Donaugebieten, bildet dies die Regel. Die römischen Festungen zwar verfielen naturgemäß gewaltsamer Zerstörung oder allmählicher Verödung mit dem Untergange des Reiches, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/433>, abgerufen am 30.04.2024.