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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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politische Briefe.
20. Die Antisemitenpetition im Abgeordnetenhause.

Wir haben neuerdings öfters die Klage hören müssen, daß die ununter¬
brochene Initiative des Kanzlers alle Selbstthätigkeit des deutschen Volles ver¬
schlinge. Sobald aber einmal eine Frage aufgeworfen wird, welcher der Kanzler
fern bleibt, so zeigt sich eine Unbehilflichkeit -- wenn nicht noch weit Schlim¬
meres --, welche die schwersten Befürchtungen für die Zukunft wachruft.

Der antisemitischen Bewegung steht der Kanzler ganz fern, obwohl nied¬
rige Verleumdung, zu deren Organ die Herren Virchow und Richter sich im
Abgeordnetenhaus,- gemacht haben, die freche Behauptung wagt, er habe sie heim¬
lich angefacht. Wären diese Herren in ihrem verblendeten Hasse nicht zugleich
so einfältig, so müßten sie die Thorheit solcher Lügen selbst durch die Brille
ihres Hasses erblicken. Wenn es einen Namen giebt, von dem schon jetzt sicher
ist, daß die Nachwelt ihm dem Fürsten Bismarck zusprechen wird, so ist es der
des freiesten Mannes seines Jahrhunderts, eines Jahrhunderts, das in dem
Wahne lebt, alle Vorurtheile besiegt zu haben, um thätiger als irgend ein anderes
an neuen Vorurtheilen zu schmieden. Den Fürsten Bismarck wird sein freier
Blick auch in der Judenfrage nicht zum Anhänger der fortschrittlichen Dogmen
machen, wohl aber die Roheit in der Beurtheilung des Juden als Menschen,
von welcher die antisemitische Bewegung sich nicht frei hält, schwer verdammen
lassen. Außerdem muß diese Bewegung ihm gerade jetzt doppelt ungelegen
kommen. Er ist mit dringenderen socialen Fragen beschäftigt, als daß er jetzt
diese sociale Frage lösen könnte, die nicht dringend, aber sehr schwer ist, und
deren richtige Lösung von Voraussetzungen abhängt, die im Augenblicke auf
keine Weise zu erfüllen sind. Und was weit mehr ist: diese antisemitische Be¬
wegung geht von den specifischen Feinden des Kanzlers aus, von den Ultra¬
montanen und von der äußersten Rechten der deutschconservativen Partei, jener
Rechten, deren Haß gegen den Kanzler in den Aeraartikeln der-"Kreuzzeitung"
und in der "Reichsglocke" vielleicht erst einen schwachen Theil seines Giftes ab¬
gelagert hat. Den Bund, den diese beide Parteien bei der diesmaligen Prä¬
sidentenwahl des Abgeordnetenhauses durch die Nachwirkung des Kölner Dom¬
baufestes verhindert wurden zu besiegeln, haben sie unter dem Banner der
Antisemitenbewegung, gedeckt durch das Ungeschick ihrer Gegner, aufs neue
schließen können. Aber das politische Urtheil der Herren Virchow und Richter
reicht gerade weit genug, um den Kanzler für den Urheber dieser Bewegung
zu halten.


Grenzboten IV. 1830. gg
politische Briefe.
20. Die Antisemitenpetition im Abgeordnetenhause.

Wir haben neuerdings öfters die Klage hören müssen, daß die ununter¬
brochene Initiative des Kanzlers alle Selbstthätigkeit des deutschen Volles ver¬
schlinge. Sobald aber einmal eine Frage aufgeworfen wird, welcher der Kanzler
fern bleibt, so zeigt sich eine Unbehilflichkeit — wenn nicht noch weit Schlim¬
meres —, welche die schwersten Befürchtungen für die Zukunft wachruft.

Der antisemitischen Bewegung steht der Kanzler ganz fern, obwohl nied¬
rige Verleumdung, zu deren Organ die Herren Virchow und Richter sich im
Abgeordnetenhaus,- gemacht haben, die freche Behauptung wagt, er habe sie heim¬
lich angefacht. Wären diese Herren in ihrem verblendeten Hasse nicht zugleich
so einfältig, so müßten sie die Thorheit solcher Lügen selbst durch die Brille
ihres Hasses erblicken. Wenn es einen Namen giebt, von dem schon jetzt sicher
ist, daß die Nachwelt ihm dem Fürsten Bismarck zusprechen wird, so ist es der
des freiesten Mannes seines Jahrhunderts, eines Jahrhunderts, das in dem
Wahne lebt, alle Vorurtheile besiegt zu haben, um thätiger als irgend ein anderes
an neuen Vorurtheilen zu schmieden. Den Fürsten Bismarck wird sein freier
Blick auch in der Judenfrage nicht zum Anhänger der fortschrittlichen Dogmen
machen, wohl aber die Roheit in der Beurtheilung des Juden als Menschen,
von welcher die antisemitische Bewegung sich nicht frei hält, schwer verdammen
lassen. Außerdem muß diese Bewegung ihm gerade jetzt doppelt ungelegen
kommen. Er ist mit dringenderen socialen Fragen beschäftigt, als daß er jetzt
diese sociale Frage lösen könnte, die nicht dringend, aber sehr schwer ist, und
deren richtige Lösung von Voraussetzungen abhängt, die im Augenblicke auf
keine Weise zu erfüllen sind. Und was weit mehr ist: diese antisemitische Be¬
wegung geht von den specifischen Feinden des Kanzlers aus, von den Ultra¬
montanen und von der äußersten Rechten der deutschconservativen Partei, jener
Rechten, deren Haß gegen den Kanzler in den Aeraartikeln der-„Kreuzzeitung"
und in der „Reichsglocke" vielleicht erst einen schwachen Theil seines Giftes ab¬
gelagert hat. Den Bund, den diese beide Parteien bei der diesmaligen Prä¬
sidentenwahl des Abgeordnetenhauses durch die Nachwirkung des Kölner Dom¬
baufestes verhindert wurden zu besiegeln, haben sie unter dem Banner der
Antisemitenbewegung, gedeckt durch das Ungeschick ihrer Gegner, aufs neue
schließen können. Aber das politische Urtheil der Herren Virchow und Richter
reicht gerade weit genug, um den Kanzler für den Urheber dieser Bewegung
zu halten.


Grenzboten IV. 1830. gg
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[0425] politische Briefe. 20. Die Antisemitenpetition im Abgeordnetenhause. Wir haben neuerdings öfters die Klage hören müssen, daß die ununter¬ brochene Initiative des Kanzlers alle Selbstthätigkeit des deutschen Volles ver¬ schlinge. Sobald aber einmal eine Frage aufgeworfen wird, welcher der Kanzler fern bleibt, so zeigt sich eine Unbehilflichkeit — wenn nicht noch weit Schlim¬ meres —, welche die schwersten Befürchtungen für die Zukunft wachruft. Der antisemitischen Bewegung steht der Kanzler ganz fern, obwohl nied¬ rige Verleumdung, zu deren Organ die Herren Virchow und Richter sich im Abgeordnetenhaus,- gemacht haben, die freche Behauptung wagt, er habe sie heim¬ lich angefacht. Wären diese Herren in ihrem verblendeten Hasse nicht zugleich so einfältig, so müßten sie die Thorheit solcher Lügen selbst durch die Brille ihres Hasses erblicken. Wenn es einen Namen giebt, von dem schon jetzt sicher ist, daß die Nachwelt ihm dem Fürsten Bismarck zusprechen wird, so ist es der des freiesten Mannes seines Jahrhunderts, eines Jahrhunderts, das in dem Wahne lebt, alle Vorurtheile besiegt zu haben, um thätiger als irgend ein anderes an neuen Vorurtheilen zu schmieden. Den Fürsten Bismarck wird sein freier Blick auch in der Judenfrage nicht zum Anhänger der fortschrittlichen Dogmen machen, wohl aber die Roheit in der Beurtheilung des Juden als Menschen, von welcher die antisemitische Bewegung sich nicht frei hält, schwer verdammen lassen. Außerdem muß diese Bewegung ihm gerade jetzt doppelt ungelegen kommen. Er ist mit dringenderen socialen Fragen beschäftigt, als daß er jetzt diese sociale Frage lösen könnte, die nicht dringend, aber sehr schwer ist, und deren richtige Lösung von Voraussetzungen abhängt, die im Augenblicke auf keine Weise zu erfüllen sind. Und was weit mehr ist: diese antisemitische Be¬ wegung geht von den specifischen Feinden des Kanzlers aus, von den Ultra¬ montanen und von der äußersten Rechten der deutschconservativen Partei, jener Rechten, deren Haß gegen den Kanzler in den Aeraartikeln der-„Kreuzzeitung" und in der „Reichsglocke" vielleicht erst einen schwachen Theil seines Giftes ab¬ gelagert hat. Den Bund, den diese beide Parteien bei der diesmaligen Prä¬ sidentenwahl des Abgeordnetenhauses durch die Nachwirkung des Kölner Dom¬ baufestes verhindert wurden zu besiegeln, haben sie unter dem Banner der Antisemitenbewegung, gedeckt durch das Ungeschick ihrer Gegner, aufs neue schließen können. Aber das politische Urtheil der Herren Virchow und Richter reicht gerade weit genug, um den Kanzler für den Urheber dieser Bewegung zu halten. Grenzboten IV. 1830. gg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/425>, abgerufen am 02.05.2024.