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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal.

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Der fernhin treffende Blick des Kanzlers ist es nicht, der dieser Bewegung
Ziel und Richtung vorzeichnet. Dafür aber auch, wie kläglich, wie widerlich
ist das Schauspiel, das sie darbietet! Da ist zuerst Herr Stöcker, der einen
eignen Streitwagen führt und mit der Schaar, welche sich selbst Antisemiten¬
liga nennt, wenn man seinen Worten glauben darf, nichts zu thun hat. So
lange es eine gesellschaftliche Moral giebt, hat das Verfahren für verwerflich
gegolten, gegen einen unbestimmt und doch coneret bezeichneten Theil der Mit¬
lebenden den Zorn der Mehrzahl zu erregen und ohne Bezeichnung der Personen
allgemeine Anklagen hinzuschleudern. Man hat in diesem Verfahren stets die
Hinterlist und die Feigheit erblickt, welche die schlimme That zu schüren und
sich zugleich vor der Verantwortlichkeit zu schützen sucht, welche sich gleich schwer
versündigt an den Verführten wie an den Opfern. Wie soll man das Ver¬
fahren des Herrn Stöcker bezeichnen? Er hat es auf der Rednerbühne des
Abgeordnetenhauses geschildert und vertheidigt. Ihm ist die Judenfrage weder
eine religiöse noch eine Rassenfrage, sondern eine social-ethische. Wenn dieser
Ausdruck in dem Sinne gebraucht worden ist, den er allein haben kann, so heißt
das: Herr Stöcker will niemand weder um der jüdischen Religion noch um der
jüdischen Abstammung willen bekämpft oder beschränkt sehen, er will nur ge¬
wisse Auswüchse auf dem Boden des socialen Lebens bekämpfen und zwar nur
durch die Mittel des moralischen Einflusses, der öffentlichen Mißbilligung, der
Wachsamkeit gegen sich und andere. Dieser Weg liegt ja einem Prediger nahe,
ihn zu betreten ist das Vorrecht der Kanzel. Aber er wird gefährlich, wenn
er von der Kanzel in die Volksversammlung führt, wenn er die gemessene
Sprache der erstem mit der drastischen Rücksichtslosigkeit der letztem vertauscht,
wenn er, anstatt die Gesammtheit 5er Hörer an den unsichtbaren Richter zu
verweisen, den Eigennutz und die Leidenschaft einer wilden Masse in die Rolle
des äußern und innern Richters zugleich einsetzt. Was hat Herr Stöcker
in seinen Volksversammlungen gethan? Er hat eine zusammengewürfelte, un¬
zurechnungsfähige Masse ohne Proceß zur moralischen Beurtheilung aufgerufen
und den Haß dieser Masse um so gefährlicher entflammt, als er ihr nirgends
den praktischen Weg zur Besserung der beklagten Zustände gewiesen hat. Herr
Stöcker hat sich nicht einmal zu den Forderungen der Antisemitenpetition
zu bekennen gewagt; nur den vierten ganz werthlosen Punkt, so sagte er, habe
er befürwortet, die übrigen widerrathen. Und doch hat er die Petition unter¬
zeichnet, nachdem er zuerst den Versuch gemacht, die Unterschrift abzuleugnen. Und
dieser Mann, so unsicher in seiner Einsicht, will als Reformator auftreten, läßt
sich einen zweiten Luther nennen, ohne vor dem Gefühle der Verantwortung in
die Erde zu sinken!

Eine zweite Streiterschaar ist es, die jene Petition in Umlauf gesetzt hat,


Der fernhin treffende Blick des Kanzlers ist es nicht, der dieser Bewegung
Ziel und Richtung vorzeichnet. Dafür aber auch, wie kläglich, wie widerlich
ist das Schauspiel, das sie darbietet! Da ist zuerst Herr Stöcker, der einen
eignen Streitwagen führt und mit der Schaar, welche sich selbst Antisemiten¬
liga nennt, wenn man seinen Worten glauben darf, nichts zu thun hat. So
lange es eine gesellschaftliche Moral giebt, hat das Verfahren für verwerflich
gegolten, gegen einen unbestimmt und doch coneret bezeichneten Theil der Mit¬
lebenden den Zorn der Mehrzahl zu erregen und ohne Bezeichnung der Personen
allgemeine Anklagen hinzuschleudern. Man hat in diesem Verfahren stets die
Hinterlist und die Feigheit erblickt, welche die schlimme That zu schüren und
sich zugleich vor der Verantwortlichkeit zu schützen sucht, welche sich gleich schwer
versündigt an den Verführten wie an den Opfern. Wie soll man das Ver¬
fahren des Herrn Stöcker bezeichnen? Er hat es auf der Rednerbühne des
Abgeordnetenhauses geschildert und vertheidigt. Ihm ist die Judenfrage weder
eine religiöse noch eine Rassenfrage, sondern eine social-ethische. Wenn dieser
Ausdruck in dem Sinne gebraucht worden ist, den er allein haben kann, so heißt
das: Herr Stöcker will niemand weder um der jüdischen Religion noch um der
jüdischen Abstammung willen bekämpft oder beschränkt sehen, er will nur ge¬
wisse Auswüchse auf dem Boden des socialen Lebens bekämpfen und zwar nur
durch die Mittel des moralischen Einflusses, der öffentlichen Mißbilligung, der
Wachsamkeit gegen sich und andere. Dieser Weg liegt ja einem Prediger nahe,
ihn zu betreten ist das Vorrecht der Kanzel. Aber er wird gefährlich, wenn
er von der Kanzel in die Volksversammlung führt, wenn er die gemessene
Sprache der erstem mit der drastischen Rücksichtslosigkeit der letztem vertauscht,
wenn er, anstatt die Gesammtheit 5er Hörer an den unsichtbaren Richter zu
verweisen, den Eigennutz und die Leidenschaft einer wilden Masse in die Rolle
des äußern und innern Richters zugleich einsetzt. Was hat Herr Stöcker
in seinen Volksversammlungen gethan? Er hat eine zusammengewürfelte, un¬
zurechnungsfähige Masse ohne Proceß zur moralischen Beurtheilung aufgerufen
und den Haß dieser Masse um so gefährlicher entflammt, als er ihr nirgends
den praktischen Weg zur Besserung der beklagten Zustände gewiesen hat. Herr
Stöcker hat sich nicht einmal zu den Forderungen der Antisemitenpetition
zu bekennen gewagt; nur den vierten ganz werthlosen Punkt, so sagte er, habe
er befürwortet, die übrigen widerrathen. Und doch hat er die Petition unter¬
zeichnet, nachdem er zuerst den Versuch gemacht, die Unterschrift abzuleugnen. Und
dieser Mann, so unsicher in seiner Einsicht, will als Reformator auftreten, läßt
sich einen zweiten Luther nennen, ohne vor dem Gefühle der Verantwortung in
die Erde zu sinken!

Eine zweite Streiterschaar ist es, die jene Petition in Umlauf gesetzt hat,


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[0426] Der fernhin treffende Blick des Kanzlers ist es nicht, der dieser Bewegung Ziel und Richtung vorzeichnet. Dafür aber auch, wie kläglich, wie widerlich ist das Schauspiel, das sie darbietet! Da ist zuerst Herr Stöcker, der einen eignen Streitwagen führt und mit der Schaar, welche sich selbst Antisemiten¬ liga nennt, wenn man seinen Worten glauben darf, nichts zu thun hat. So lange es eine gesellschaftliche Moral giebt, hat das Verfahren für verwerflich gegolten, gegen einen unbestimmt und doch coneret bezeichneten Theil der Mit¬ lebenden den Zorn der Mehrzahl zu erregen und ohne Bezeichnung der Personen allgemeine Anklagen hinzuschleudern. Man hat in diesem Verfahren stets die Hinterlist und die Feigheit erblickt, welche die schlimme That zu schüren und sich zugleich vor der Verantwortlichkeit zu schützen sucht, welche sich gleich schwer versündigt an den Verführten wie an den Opfern. Wie soll man das Ver¬ fahren des Herrn Stöcker bezeichnen? Er hat es auf der Rednerbühne des Abgeordnetenhauses geschildert und vertheidigt. Ihm ist die Judenfrage weder eine religiöse noch eine Rassenfrage, sondern eine social-ethische. Wenn dieser Ausdruck in dem Sinne gebraucht worden ist, den er allein haben kann, so heißt das: Herr Stöcker will niemand weder um der jüdischen Religion noch um der jüdischen Abstammung willen bekämpft oder beschränkt sehen, er will nur ge¬ wisse Auswüchse auf dem Boden des socialen Lebens bekämpfen und zwar nur durch die Mittel des moralischen Einflusses, der öffentlichen Mißbilligung, der Wachsamkeit gegen sich und andere. Dieser Weg liegt ja einem Prediger nahe, ihn zu betreten ist das Vorrecht der Kanzel. Aber er wird gefährlich, wenn er von der Kanzel in die Volksversammlung führt, wenn er die gemessene Sprache der erstem mit der drastischen Rücksichtslosigkeit der letztem vertauscht, wenn er, anstatt die Gesammtheit 5er Hörer an den unsichtbaren Richter zu verweisen, den Eigennutz und die Leidenschaft einer wilden Masse in die Rolle des äußern und innern Richters zugleich einsetzt. Was hat Herr Stöcker in seinen Volksversammlungen gethan? Er hat eine zusammengewürfelte, un¬ zurechnungsfähige Masse ohne Proceß zur moralischen Beurtheilung aufgerufen und den Haß dieser Masse um so gefährlicher entflammt, als er ihr nirgends den praktischen Weg zur Besserung der beklagten Zustände gewiesen hat. Herr Stöcker hat sich nicht einmal zu den Forderungen der Antisemitenpetition zu bekennen gewagt; nur den vierten ganz werthlosen Punkt, so sagte er, habe er befürwortet, die übrigen widerrathen. Und doch hat er die Petition unter¬ zeichnet, nachdem er zuerst den Versuch gemacht, die Unterschrift abzuleugnen. Und dieser Mann, so unsicher in seiner Einsicht, will als Reformator auftreten, läßt sich einen zweiten Luther nennen, ohne vor dem Gefühle der Verantwortung in die Erde zu sinken! Eine zweite Streiterschaar ist es, die jene Petition in Umlauf gesetzt hat,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157695/426>, abgerufen am 18.05.2024.