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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate.
von Tuno Stommel.

u den zersetzenden Elementen im Staate gehören alle diejenigen
Bestrebungen, welche den Zweck haben, die bestehenden gesetzlichen
Formen aufzuheben oder zu verändern. Die besten und tüchtig¬
sten Kräfte eines Volkes können daran Theil nehmen; destructiv
werden sie erst dann, wenn sie im Widerspruche mit der wieder¬
aufbauenden Thätigkeit gesunder Zersetzung zur Gesetzlosigkeit übergehen. Gesetz¬
liche und destructive Zersetzungstendenzen finden sich fast immer mit einander
so eng verquickt, daß die größten Frevler oft noch eine Art von Märtyrerthum
für sich in Anspruch nehmen können. Es dürfte sich daher wohl der Mühe
verlohnen, durch kritische Auseinandersetzung und geschichtliche Beispiele eine
solche widerspruchsvolle Erscheinung zu erklären.

Der Menschenkenner bemerkt Gesichter, in denen neben den schönsten Formen,
den geistreichsten Mienen ein böser destructiver Zug einherläuft, ein Zug, der
dem Antlitz oft erst sein Gepräge giebt. Es ist zwar mehr eine philosophische
Spielerei, das Leben des einzelnen, als eine in sich geschlossene Einheit, mit
dem Leben und der Einheit des Staates zu vergleichen. Aber wie beim Indi¬
viduum Gut und Böse, Gott und Dämon im Kampfe liegen, so läßt sich auch
in jedem Staate ein Kampf der gesetzlichen und sittlichen mit den ungesetzlichen
und unsittlichen destructiven Tendenzen nachweisen. Der Gegensatz dieser beiden
Gewalten wird niemals beseitigt werden können. Trotzdem wird es stets zur
Staatsraison gehören, solche Einrichtungen zu treffen und diese allmählich bis
ins Kleinste so auszubauen, daß den gesetzlosen Tendenzen die Nahrung ent¬
zogen wird und alle Neuerungen immer mehr ihren Ausdruck in einer gesetz¬
lichen Form finden können.

Aber selbst im günstigsten Falle wird das Antlitz der Parteien im Staate
Spuren jenes destructiven Zuges tragen müssen. Das Streben des großen
Haufens, seine Rechte, sobald Macht damit verbunden ist, zu mißbrauchen, liegt
tief in der menschlichen Natur begründet. Wo immer eine Partei oder eine
Volksclasse zur Herrschaft über eine andere gelaugt ist, hat sie auch jene Herr¬
schaft zu mißbrauchen gestrebt; wo immer ihr selbst aber einmal wirkliches Un¬
recht von Seiten des Staates zugefügt worden ist, da hat sie jede Willkür als
Represalie für erlaubt erachtet. Nicht die Menge als solche, nur sittlich Hoch-


Grenzboten I, 1881, Is
Die destructiven Elemente im Staate.
von Tuno Stommel.

u den zersetzenden Elementen im Staate gehören alle diejenigen
Bestrebungen, welche den Zweck haben, die bestehenden gesetzlichen
Formen aufzuheben oder zu verändern. Die besten und tüchtig¬
sten Kräfte eines Volkes können daran Theil nehmen; destructiv
werden sie erst dann, wenn sie im Widerspruche mit der wieder¬
aufbauenden Thätigkeit gesunder Zersetzung zur Gesetzlosigkeit übergehen. Gesetz¬
liche und destructive Zersetzungstendenzen finden sich fast immer mit einander
so eng verquickt, daß die größten Frevler oft noch eine Art von Märtyrerthum
für sich in Anspruch nehmen können. Es dürfte sich daher wohl der Mühe
verlohnen, durch kritische Auseinandersetzung und geschichtliche Beispiele eine
solche widerspruchsvolle Erscheinung zu erklären.

Der Menschenkenner bemerkt Gesichter, in denen neben den schönsten Formen,
den geistreichsten Mienen ein böser destructiver Zug einherläuft, ein Zug, der
dem Antlitz oft erst sein Gepräge giebt. Es ist zwar mehr eine philosophische
Spielerei, das Leben des einzelnen, als eine in sich geschlossene Einheit, mit
dem Leben und der Einheit des Staates zu vergleichen. Aber wie beim Indi¬
viduum Gut und Böse, Gott und Dämon im Kampfe liegen, so läßt sich auch
in jedem Staate ein Kampf der gesetzlichen und sittlichen mit den ungesetzlichen
und unsittlichen destructiven Tendenzen nachweisen. Der Gegensatz dieser beiden
Gewalten wird niemals beseitigt werden können. Trotzdem wird es stets zur
Staatsraison gehören, solche Einrichtungen zu treffen und diese allmählich bis
ins Kleinste so auszubauen, daß den gesetzlosen Tendenzen die Nahrung ent¬
zogen wird und alle Neuerungen immer mehr ihren Ausdruck in einer gesetz¬
lichen Form finden können.

Aber selbst im günstigsten Falle wird das Antlitz der Parteien im Staate
Spuren jenes destructiven Zuges tragen müssen. Das Streben des großen
Haufens, seine Rechte, sobald Macht damit verbunden ist, zu mißbrauchen, liegt
tief in der menschlichen Natur begründet. Wo immer eine Partei oder eine
Volksclasse zur Herrschaft über eine andere gelaugt ist, hat sie auch jene Herr¬
schaft zu mißbrauchen gestrebt; wo immer ihr selbst aber einmal wirkliches Un¬
recht von Seiten des Staates zugefügt worden ist, da hat sie jede Willkür als
Represalie für erlaubt erachtet. Nicht die Menge als solche, nur sittlich Hoch-


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[0113] Die destructiven Elemente im Staate. von Tuno Stommel. u den zersetzenden Elementen im Staate gehören alle diejenigen Bestrebungen, welche den Zweck haben, die bestehenden gesetzlichen Formen aufzuheben oder zu verändern. Die besten und tüchtig¬ sten Kräfte eines Volkes können daran Theil nehmen; destructiv werden sie erst dann, wenn sie im Widerspruche mit der wieder¬ aufbauenden Thätigkeit gesunder Zersetzung zur Gesetzlosigkeit übergehen. Gesetz¬ liche und destructive Zersetzungstendenzen finden sich fast immer mit einander so eng verquickt, daß die größten Frevler oft noch eine Art von Märtyrerthum für sich in Anspruch nehmen können. Es dürfte sich daher wohl der Mühe verlohnen, durch kritische Auseinandersetzung und geschichtliche Beispiele eine solche widerspruchsvolle Erscheinung zu erklären. Der Menschenkenner bemerkt Gesichter, in denen neben den schönsten Formen, den geistreichsten Mienen ein böser destructiver Zug einherläuft, ein Zug, der dem Antlitz oft erst sein Gepräge giebt. Es ist zwar mehr eine philosophische Spielerei, das Leben des einzelnen, als eine in sich geschlossene Einheit, mit dem Leben und der Einheit des Staates zu vergleichen. Aber wie beim Indi¬ viduum Gut und Böse, Gott und Dämon im Kampfe liegen, so läßt sich auch in jedem Staate ein Kampf der gesetzlichen und sittlichen mit den ungesetzlichen und unsittlichen destructiven Tendenzen nachweisen. Der Gegensatz dieser beiden Gewalten wird niemals beseitigt werden können. Trotzdem wird es stets zur Staatsraison gehören, solche Einrichtungen zu treffen und diese allmählich bis ins Kleinste so auszubauen, daß den gesetzlosen Tendenzen die Nahrung ent¬ zogen wird und alle Neuerungen immer mehr ihren Ausdruck in einer gesetz¬ lichen Form finden können. Aber selbst im günstigsten Falle wird das Antlitz der Parteien im Staate Spuren jenes destructiven Zuges tragen müssen. Das Streben des großen Haufens, seine Rechte, sobald Macht damit verbunden ist, zu mißbrauchen, liegt tief in der menschlichen Natur begründet. Wo immer eine Partei oder eine Volksclasse zur Herrschaft über eine andere gelaugt ist, hat sie auch jene Herr¬ schaft zu mißbrauchen gestrebt; wo immer ihr selbst aber einmal wirkliches Un¬ recht von Seiten des Staates zugefügt worden ist, da hat sie jede Willkür als Represalie für erlaubt erachtet. Nicht die Menge als solche, nur sittlich Hoch- Grenzboten I, 1881, Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/113>, abgerufen am 29.04.2024.