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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate,

stehende, vornehme Geister vermögen die von den Trägern des Staats ihnen
angethane Unbill und Kränkung schweigend um der Idee des Staates willen
zu ertragen; der gemeine Sinn trägt sein kleines verletztes Ich überall mit
der Lärmtromvete durch die Gassen und glaubt einen Freibrief zu gewaltthäti¬
ger Auflehnung gegen die Gesetze beanspruchen zu dürfen.

Jedes Unrecht lockt Widerstand hervor. Dieser ist aber nur so lange be¬
rechtigt, als er sich in gesetzlichen, nicht in destructiven Formen äußert. Das
letztere wird aber besonders daun geschehen, wenn im Volke der Glaube, daß
der gesetzliche Weg zum Ziele führe, verloren gegangen ist. Der Staat ist nun
vor allem dasjenige Verhältniß, welches verflicht, die Sittlichkeit des einzelnen
zu verallgemeinern und, im Besitze der Macht, diese Macht doch nicht zur Will¬
kür zu mißbrauchen, sondern seine Zwecke in gesetzlicher Weise zu verwirklichen.
Damit ist aber für den Staat Irrthum und Schuld ebenso wenig ausgeschlossen
wie für den einzelnen, sittlich strebenden und irrenden Menschen. Beide müssen
die Sühne sür jedes Unrecht, das sie begehen, tragen, für beide gilt der Grund¬
satz, daß es nichts giebt, was ohne Einschränkung gut genannt werden kann, es
sei denn ein guter Wille. Also auch das grundsatzvollste Streben eines Staats¬
mannes kann dem Irrthum unterworfen sein, und auch die besten Absichten und
Gesetze können durch Unrecht, Willkür und Schlechtigkeit einzelner Staatsbeamten
vereitelt werden. Somit kommt jeder Staat in die Lage, berechtigte Interessen
zu verletzen und dadurch den destructiven Elementen Vorwand und scheinbare
Entschuldigung zu geben. Gegen das Unrecht aufzustehen und ihm Widerstand
zu leisten ist ein Vorzug der Würde der Menschennatur, ein angebornes Men¬
schenrecht; der Staat hat nur dahin zu wirken, daß dieses Recht nicht destructiv
zur Ausübung gelange. Es ist des Staates Aufgabe alles in allem: durch
die ganze Organisation seiner Gesetze und seiner Beamten auch dem niedrigsten
und kleinsten Bürger es in jedem Augenblicke klar zu machen, daß das Gesetz¬
lose von Staatswegen nicht sein könne. Dem entspricht aber auch die Pflicht
des Staates, nicht selbst Unrecht zu thu". Das Unrecht, welches der Staat im
Namen des Rechts und des Gesetzes thut, ist bei weitem gefährlicher und
unsittlicher als das Unrecht, welches aus der Bosheit der Menschennatur ent¬
steht. Die Niederlagen der Staatsregierung -- anch die kleinen Niederlagen --
entspringen einer Verquickung jener fremden Schuld mit der eignen des Staates
oder seiner Beamten; daher muß ein Staatsmann, der diesen hohen Namen
verdienen will, die Jncarnation des ethischen Gedankens seiner Zeit darstellen.
Wo in der Bevölkerung der Glaube verloren geht, daß der Staat nicht min¬
destens ein Theil der Verwirklichung der göttlichen Vernunft sei, wo die Menge
nicht mehr von der Ueberzeugung getragen wird, daß ihre Lenker und Regierer
mindestens das Recht wollen und im Stande sind, die Achtung vor dem Recht


Die destructiven Elemente im Staate,

stehende, vornehme Geister vermögen die von den Trägern des Staats ihnen
angethane Unbill und Kränkung schweigend um der Idee des Staates willen
zu ertragen; der gemeine Sinn trägt sein kleines verletztes Ich überall mit
der Lärmtromvete durch die Gassen und glaubt einen Freibrief zu gewaltthäti¬
ger Auflehnung gegen die Gesetze beanspruchen zu dürfen.

Jedes Unrecht lockt Widerstand hervor. Dieser ist aber nur so lange be¬
rechtigt, als er sich in gesetzlichen, nicht in destructiven Formen äußert. Das
letztere wird aber besonders daun geschehen, wenn im Volke der Glaube, daß
der gesetzliche Weg zum Ziele führe, verloren gegangen ist. Der Staat ist nun
vor allem dasjenige Verhältniß, welches verflicht, die Sittlichkeit des einzelnen
zu verallgemeinern und, im Besitze der Macht, diese Macht doch nicht zur Will¬
kür zu mißbrauchen, sondern seine Zwecke in gesetzlicher Weise zu verwirklichen.
Damit ist aber für den Staat Irrthum und Schuld ebenso wenig ausgeschlossen
wie für den einzelnen, sittlich strebenden und irrenden Menschen. Beide müssen
die Sühne sür jedes Unrecht, das sie begehen, tragen, für beide gilt der Grund¬
satz, daß es nichts giebt, was ohne Einschränkung gut genannt werden kann, es
sei denn ein guter Wille. Also auch das grundsatzvollste Streben eines Staats¬
mannes kann dem Irrthum unterworfen sein, und auch die besten Absichten und
Gesetze können durch Unrecht, Willkür und Schlechtigkeit einzelner Staatsbeamten
vereitelt werden. Somit kommt jeder Staat in die Lage, berechtigte Interessen
zu verletzen und dadurch den destructiven Elementen Vorwand und scheinbare
Entschuldigung zu geben. Gegen das Unrecht aufzustehen und ihm Widerstand
zu leisten ist ein Vorzug der Würde der Menschennatur, ein angebornes Men¬
schenrecht; der Staat hat nur dahin zu wirken, daß dieses Recht nicht destructiv
zur Ausübung gelange. Es ist des Staates Aufgabe alles in allem: durch
die ganze Organisation seiner Gesetze und seiner Beamten auch dem niedrigsten
und kleinsten Bürger es in jedem Augenblicke klar zu machen, daß das Gesetz¬
lose von Staatswegen nicht sein könne. Dem entspricht aber auch die Pflicht
des Staates, nicht selbst Unrecht zu thu». Das Unrecht, welches der Staat im
Namen des Rechts und des Gesetzes thut, ist bei weitem gefährlicher und
unsittlicher als das Unrecht, welches aus der Bosheit der Menschennatur ent¬
steht. Die Niederlagen der Staatsregierung — anch die kleinen Niederlagen —
entspringen einer Verquickung jener fremden Schuld mit der eignen des Staates
oder seiner Beamten; daher muß ein Staatsmann, der diesen hohen Namen
verdienen will, die Jncarnation des ethischen Gedankens seiner Zeit darstellen.
Wo in der Bevölkerung der Glaube verloren geht, daß der Staat nicht min¬
destens ein Theil der Verwirklichung der göttlichen Vernunft sei, wo die Menge
nicht mehr von der Ueberzeugung getragen wird, daß ihre Lenker und Regierer
mindestens das Recht wollen und im Stande sind, die Achtung vor dem Recht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/114>, abgerufen am 14.05.2024.