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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Aus den Erinnerungen eines dänischen Staatsmannes.

emoiren haben in der Regel einen eigenthümlichen Reiz und Werth,
Theils ist derselbe in der Ergänzung der geschichtlichen Erkenntniß,
die sie gewähren, theils in der geistigen und sittlichen Individualität,
die sich in ihnen spiegelt, begründet. In der einen Beziehung tritt
der Charakter der handelnden Persönlichkeiten, die Richtung oder
der Gegensatz der Richtungen, welche die Zeit bestimmen, lebendiger vor unsre
Augen; die individuellen Elemente im Verlauf der Begebenheiten, Wechsel und
Dauer in Stimmungen und Neigungen werden lebhafter von uns empfunden.
In der andern Beziehung ist der Gewinn ein zweifelhafterer je nach dem innern
Gehalt der darstellenden Persönlichkeit; er ist abhängig vou der Vielseitigkeit
ihrer Beobachtungen, von der Klarheit und Schärfe ihres Urtheils. Und nicht
immer wird uns der doppelte Genuß zu Theil, dankbar einer Bereicherung unsrer
geschichtlichen Erkenntniß uns zu erfreuen und an dem Bilde einer edeln, freien
und bedeutenden Persönlichkeit uns zu erquicken.

Die Lebenserinnerungen des Mannes, auf welche wir hier das Interesse
unsrer Leser lenken möchten/') bietet uns nach beiden Seiten volle Befriedigung.
Sie versetzen uns in den Ausgang des vorigen und in den Anfang dieses Jahr¬
hunderts. Die geistige Bewegung in Deutschland, die öffentlichen Zustände in
Dänemark, Rußland, Spanien und England unter dem Einfluß der französischen
Revolution und der Herrschaft Napoleons, wie sie sich im Geiste eines Mannes
spiegeln, der mit weitem Blick, offenem Auge, Adel der Gesinnung, Festigkeit der
Ueberzeugung beobachtet und beurtheilt, dem sein liebenswürdiges Naturell den
Schlüssel für die mannichfaltigsten und entgegengesetztesten Individualitäten in die
Hand giebt, und der seine reichen Erfahrungen in der durchsichtigsten, schönsten
Darstellung auszusprechen weiß, das ist der Gegenstand, der uns hier fesselt,
und für den wir eine allgemeinere Theilnahme zu erregen gewiß sind.

Wir verzichten darauf, dem Lebenslauf des Mannes, dem diese Zeilen ge¬
widmet sind, Johann Georg Rists, von seinen ersten Anfängen an zu folgen,
beabsichtigen vielmehr denselben nur insoweit darzustellen, als er mit den großen,
allgemeinen Bewegungen der Zeit in Zusammenhang steht. Wir unterlassen es daher,



*) Johann Georg Rists Lebenserinnerungen. Herausgegeben von G. Poet.
Zwei Blinde. Gothn, F. A. Perthes, 1880.
Aus den Erinnerungen eines dänischen Staatsmannes.

emoiren haben in der Regel einen eigenthümlichen Reiz und Werth,
Theils ist derselbe in der Ergänzung der geschichtlichen Erkenntniß,
die sie gewähren, theils in der geistigen und sittlichen Individualität,
die sich in ihnen spiegelt, begründet. In der einen Beziehung tritt
der Charakter der handelnden Persönlichkeiten, die Richtung oder
der Gegensatz der Richtungen, welche die Zeit bestimmen, lebendiger vor unsre
Augen; die individuellen Elemente im Verlauf der Begebenheiten, Wechsel und
Dauer in Stimmungen und Neigungen werden lebhafter von uns empfunden.
In der andern Beziehung ist der Gewinn ein zweifelhafterer je nach dem innern
Gehalt der darstellenden Persönlichkeit; er ist abhängig vou der Vielseitigkeit
ihrer Beobachtungen, von der Klarheit und Schärfe ihres Urtheils. Und nicht
immer wird uns der doppelte Genuß zu Theil, dankbar einer Bereicherung unsrer
geschichtlichen Erkenntniß uns zu erfreuen und an dem Bilde einer edeln, freien
und bedeutenden Persönlichkeit uns zu erquicken.

Die Lebenserinnerungen des Mannes, auf welche wir hier das Interesse
unsrer Leser lenken möchten/') bietet uns nach beiden Seiten volle Befriedigung.
Sie versetzen uns in den Ausgang des vorigen und in den Anfang dieses Jahr¬
hunderts. Die geistige Bewegung in Deutschland, die öffentlichen Zustände in
Dänemark, Rußland, Spanien und England unter dem Einfluß der französischen
Revolution und der Herrschaft Napoleons, wie sie sich im Geiste eines Mannes
spiegeln, der mit weitem Blick, offenem Auge, Adel der Gesinnung, Festigkeit der
Ueberzeugung beobachtet und beurtheilt, dem sein liebenswürdiges Naturell den
Schlüssel für die mannichfaltigsten und entgegengesetztesten Individualitäten in die
Hand giebt, und der seine reichen Erfahrungen in der durchsichtigsten, schönsten
Darstellung auszusprechen weiß, das ist der Gegenstand, der uns hier fesselt,
und für den wir eine allgemeinere Theilnahme zu erregen gewiß sind.

Wir verzichten darauf, dem Lebenslauf des Mannes, dem diese Zeilen ge¬
widmet sind, Johann Georg Rists, von seinen ersten Anfängen an zu folgen,
beabsichtigen vielmehr denselben nur insoweit darzustellen, als er mit den großen,
allgemeinen Bewegungen der Zeit in Zusammenhang steht. Wir unterlassen es daher,



*) Johann Georg Rists Lebenserinnerungen. Herausgegeben von G. Poet.
Zwei Blinde. Gothn, F. A. Perthes, 1880.
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[0467] Aus den Erinnerungen eines dänischen Staatsmannes. emoiren haben in der Regel einen eigenthümlichen Reiz und Werth, Theils ist derselbe in der Ergänzung der geschichtlichen Erkenntniß, die sie gewähren, theils in der geistigen und sittlichen Individualität, die sich in ihnen spiegelt, begründet. In der einen Beziehung tritt der Charakter der handelnden Persönlichkeiten, die Richtung oder der Gegensatz der Richtungen, welche die Zeit bestimmen, lebendiger vor unsre Augen; die individuellen Elemente im Verlauf der Begebenheiten, Wechsel und Dauer in Stimmungen und Neigungen werden lebhafter von uns empfunden. In der andern Beziehung ist der Gewinn ein zweifelhafterer je nach dem innern Gehalt der darstellenden Persönlichkeit; er ist abhängig vou der Vielseitigkeit ihrer Beobachtungen, von der Klarheit und Schärfe ihres Urtheils. Und nicht immer wird uns der doppelte Genuß zu Theil, dankbar einer Bereicherung unsrer geschichtlichen Erkenntniß uns zu erfreuen und an dem Bilde einer edeln, freien und bedeutenden Persönlichkeit uns zu erquicken. Die Lebenserinnerungen des Mannes, auf welche wir hier das Interesse unsrer Leser lenken möchten/') bietet uns nach beiden Seiten volle Befriedigung. Sie versetzen uns in den Ausgang des vorigen und in den Anfang dieses Jahr¬ hunderts. Die geistige Bewegung in Deutschland, die öffentlichen Zustände in Dänemark, Rußland, Spanien und England unter dem Einfluß der französischen Revolution und der Herrschaft Napoleons, wie sie sich im Geiste eines Mannes spiegeln, der mit weitem Blick, offenem Auge, Adel der Gesinnung, Festigkeit der Ueberzeugung beobachtet und beurtheilt, dem sein liebenswürdiges Naturell den Schlüssel für die mannichfaltigsten und entgegengesetztesten Individualitäten in die Hand giebt, und der seine reichen Erfahrungen in der durchsichtigsten, schönsten Darstellung auszusprechen weiß, das ist der Gegenstand, der uns hier fesselt, und für den wir eine allgemeinere Theilnahme zu erregen gewiß sind. Wir verzichten darauf, dem Lebenslauf des Mannes, dem diese Zeilen ge¬ widmet sind, Johann Georg Rists, von seinen ersten Anfängen an zu folgen, beabsichtigen vielmehr denselben nur insoweit darzustellen, als er mit den großen, allgemeinen Bewegungen der Zeit in Zusammenhang steht. Wir unterlassen es daher, *) Johann Georg Rists Lebenserinnerungen. Herausgegeben von G. Poet. Zwei Blinde. Gothn, F. A. Perthes, 1880.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/467>, abgerufen am 28.04.2024.