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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

Der Glieder sind viele, aber der Leib ist einer (1 Kor. 12, 4 fg.)" und dazu
(I, 393) bemerkt: "Wir begegnen in der That einer durchaus zustimmenden
Anschauung des Christenthums 1. Kor. 12, und zwar in einer Vollständigkeit,
welche den socialen Körper von der untersten leiblichen Basis bis zu einer ideal
transcendentalen Spitze (in Gott durch Christus) zusammenfaßt," so erklärt Lilien¬
feld (III, 381): "Kein einziges religiöses System hat in einem so hohen Grade
intuitio und prophetisch der realgenetischen Socialwissenschaft vorgegriffen, als
es das Christenthum thut, indem es stets darauf hinweist, daß die Menschheit
ein unzertrennliches, in Haupt und Glieder differenzirtes und dabei doch in
allen Theilen solidarisches Ganzes bildet. So heißt es ja auch in der ersten
Epistel Pauli an die Corinther 12,12: ,Denn gleich wie Ein Leib ist und hat
doch viele Glieder; alle Glieder aber Eines Leibes, wiewohl ihrer viele sind,
sind sie doch Ein Leib: also auch Christus."'

Wunderbar immer wieder neu emportauchendes Wort, Deutung der Ver¬
gangenheit, Kunde der Zukunft, wer deutet dich selber? -- Welche Auffassung von
ihm aber auch die richtige sein möge, so viel ist klar, daß nichts so geeignet
ist dazu zu helfen, daß der von uns besprochene Wendepunkt in der Gesellschafts-
lehre zu einer Wende in der menschlichen Gesellschaft selbst werde, als die That¬
sache, daß die höchst civilisirten und daher leitenden Nationen des Erdenrunds
sich wenigstens dem Namen nach ausdrücklich zu diesem Glauben bekennen, und
daß daher bei ihnen diese großartige Auffassung der jüngsten Zeit von vorn¬
herein einer Resonanz begegnet, wie sie nur eine von Kindheit auf dem Sinne
eingeprägte religiöse Anschauung zu gewähren vermag. So wird jene Legende
aufs neue, wie schon so oft in der Geschichte, zu einer Macht, die theils bewußt,
Heils auch unbewußt die Menschen zur Vollendung des Menschheitsorganismus
antreibt. Denn kommen muß diese Vollendung, als einzig denkbarer Abschluß
der Natur- und Menschenentwicklung. Dies ist unser Glaube, wie es unsere
Logik ist. Kommen muß sie, diese Vollendung, oder -- das Ende.




Nachschrift der Redaction.

Dem vorstehenden Aufsatze haben wir
da er sich mit zwei umfänglichen, viel von sich reden machenden und doch nicht
jedermann zugänglichen oder lesbaren Werken beschäftigt, gern Aufnahme
gegönnt, ohne indeß den Standpunkt desselben irgendwie zu theilen. Wir
nehmen den Aufsatz als ein Erzeugniß des nachhaltigen Eindrucks, den die bei¬
den genannten Werke wohl auch noch auf andere denkende und strebende Na¬
rren gemacht haben werden. Nach unsrer Ueberzeugung beruhen jedoch alle
derartigen Systeme, welche das Problem einer unmittelbaren Harmonie des
physischen und des ethischen Kosmos zu lösen vermeinen, auf einer falschen


Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

Der Glieder sind viele, aber der Leib ist einer (1 Kor. 12, 4 fg.)" und dazu
(I, 393) bemerkt: „Wir begegnen in der That einer durchaus zustimmenden
Anschauung des Christenthums 1. Kor. 12, und zwar in einer Vollständigkeit,
welche den socialen Körper von der untersten leiblichen Basis bis zu einer ideal
transcendentalen Spitze (in Gott durch Christus) zusammenfaßt," so erklärt Lilien¬
feld (III, 381): „Kein einziges religiöses System hat in einem so hohen Grade
intuitio und prophetisch der realgenetischen Socialwissenschaft vorgegriffen, als
es das Christenthum thut, indem es stets darauf hinweist, daß die Menschheit
ein unzertrennliches, in Haupt und Glieder differenzirtes und dabei doch in
allen Theilen solidarisches Ganzes bildet. So heißt es ja auch in der ersten
Epistel Pauli an die Corinther 12,12: ,Denn gleich wie Ein Leib ist und hat
doch viele Glieder; alle Glieder aber Eines Leibes, wiewohl ihrer viele sind,
sind sie doch Ein Leib: also auch Christus."'

Wunderbar immer wieder neu emportauchendes Wort, Deutung der Ver¬
gangenheit, Kunde der Zukunft, wer deutet dich selber? — Welche Auffassung von
ihm aber auch die richtige sein möge, so viel ist klar, daß nichts so geeignet
ist dazu zu helfen, daß der von uns besprochene Wendepunkt in der Gesellschafts-
lehre zu einer Wende in der menschlichen Gesellschaft selbst werde, als die That¬
sache, daß die höchst civilisirten und daher leitenden Nationen des Erdenrunds
sich wenigstens dem Namen nach ausdrücklich zu diesem Glauben bekennen, und
daß daher bei ihnen diese großartige Auffassung der jüngsten Zeit von vorn¬
herein einer Resonanz begegnet, wie sie nur eine von Kindheit auf dem Sinne
eingeprägte religiöse Anschauung zu gewähren vermag. So wird jene Legende
aufs neue, wie schon so oft in der Geschichte, zu einer Macht, die theils bewußt,
Heils auch unbewußt die Menschen zur Vollendung des Menschheitsorganismus
antreibt. Denn kommen muß diese Vollendung, als einzig denkbarer Abschluß
der Natur- und Menschenentwicklung. Dies ist unser Glaube, wie es unsere
Logik ist. Kommen muß sie, diese Vollendung, oder — das Ende.




Nachschrift der Redaction.

Dem vorstehenden Aufsatze haben wir
da er sich mit zwei umfänglichen, viel von sich reden machenden und doch nicht
jedermann zugänglichen oder lesbaren Werken beschäftigt, gern Aufnahme
gegönnt, ohne indeß den Standpunkt desselben irgendwie zu theilen. Wir
nehmen den Aufsatz als ein Erzeugniß des nachhaltigen Eindrucks, den die bei¬
den genannten Werke wohl auch noch auf andere denkende und strebende Na¬
rren gemacht haben werden. Nach unsrer Ueberzeugung beruhen jedoch alle
derartigen Systeme, welche das Problem einer unmittelbaren Harmonie des
physischen und des ethischen Kosmos zu lösen vermeinen, auf einer falschen


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[0075] Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre. Der Glieder sind viele, aber der Leib ist einer (1 Kor. 12, 4 fg.)" und dazu (I, 393) bemerkt: „Wir begegnen in der That einer durchaus zustimmenden Anschauung des Christenthums 1. Kor. 12, und zwar in einer Vollständigkeit, welche den socialen Körper von der untersten leiblichen Basis bis zu einer ideal transcendentalen Spitze (in Gott durch Christus) zusammenfaßt," so erklärt Lilien¬ feld (III, 381): „Kein einziges religiöses System hat in einem so hohen Grade intuitio und prophetisch der realgenetischen Socialwissenschaft vorgegriffen, als es das Christenthum thut, indem es stets darauf hinweist, daß die Menschheit ein unzertrennliches, in Haupt und Glieder differenzirtes und dabei doch in allen Theilen solidarisches Ganzes bildet. So heißt es ja auch in der ersten Epistel Pauli an die Corinther 12,12: ,Denn gleich wie Ein Leib ist und hat doch viele Glieder; alle Glieder aber Eines Leibes, wiewohl ihrer viele sind, sind sie doch Ein Leib: also auch Christus."' Wunderbar immer wieder neu emportauchendes Wort, Deutung der Ver¬ gangenheit, Kunde der Zukunft, wer deutet dich selber? — Welche Auffassung von ihm aber auch die richtige sein möge, so viel ist klar, daß nichts so geeignet ist dazu zu helfen, daß der von uns besprochene Wendepunkt in der Gesellschafts- lehre zu einer Wende in der menschlichen Gesellschaft selbst werde, als die That¬ sache, daß die höchst civilisirten und daher leitenden Nationen des Erdenrunds sich wenigstens dem Namen nach ausdrücklich zu diesem Glauben bekennen, und daß daher bei ihnen diese großartige Auffassung der jüngsten Zeit von vorn¬ herein einer Resonanz begegnet, wie sie nur eine von Kindheit auf dem Sinne eingeprägte religiöse Anschauung zu gewähren vermag. So wird jene Legende aufs neue, wie schon so oft in der Geschichte, zu einer Macht, die theils bewußt, Heils auch unbewußt die Menschen zur Vollendung des Menschheitsorganismus antreibt. Denn kommen muß diese Vollendung, als einzig denkbarer Abschluß der Natur- und Menschenentwicklung. Dies ist unser Glaube, wie es unsere Logik ist. Kommen muß sie, diese Vollendung, oder — das Ende. Nachschrift der Redaction. Dem vorstehenden Aufsatze haben wir da er sich mit zwei umfänglichen, viel von sich reden machenden und doch nicht jedermann zugänglichen oder lesbaren Werken beschäftigt, gern Aufnahme gegönnt, ohne indeß den Standpunkt desselben irgendwie zu theilen. Wir nehmen den Aufsatz als ein Erzeugniß des nachhaltigen Eindrucks, den die bei¬ den genannten Werke wohl auch noch auf andere denkende und strebende Na¬ rren gemacht haben werden. Nach unsrer Ueberzeugung beruhen jedoch alle derartigen Systeme, welche das Problem einer unmittelbaren Harmonie des physischen und des ethischen Kosmos zu lösen vermeinen, auf einer falschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/75>, abgerufen am 28.04.2024.