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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

heitsorganismus. Daß derselbe aus der Willkür seinen Ursprung nähme und
nur hinterher durch das der Menschheit innewohnende organische Element eine
Umbildung erfahren sollte, wird niemand annehmen wollen, Lilienfeld und Schaffte
am wenigsten. Da läßt nun insbesondere der erstere eine eigenthümliche Lösung
durchblicken. Versuchen wir derselben nach der Art, wie wir ihn verstanden
haben, vorzugreifen.

Wir würden folgendermaßen zu schließen geneigt sein: Wenn die Menschen
nicht stürben und noch einiges andere anders wäre, so wäre die ganze Mensch¬
heit von Adam her eine fortdauernde Familie und würde also nach dem Ge¬
sagten einen fortdauernden Familienorganismus zur Darstellung bringen. Daß
dieser Zusammenhang zerrissen ist, treibt den Menschen nur noch mehr an, bei
der Rückwendung seines Geistes auf sich selber auch auf seinen Ursprung zu
reflectiren. Daß derselbe da beim leiblichen Vater nicht stehen bleiben kann,
liegt zu Tage. So schreitet sein Geist zum "Allvater" fort, mit derselben innern
Nothwendigkeit, mit der alle andere Bildung vor sich geht. Daraus folgt eins
mit unumstößlicher Gewißheit: Bildet die ganze Menschheit, sei es
latent schon jetzt, sei es dermaleinst einen realen Organismus,
so kann derselbe nur ein religiöser sein. Das ist eine Wahrheit von
unsäglicher Wichtigkeit. Ja mehr noch. Kant hindert uns freilich mit Lilien¬
feld zu sagen: "Dieser Jntegrirung in uns muß auch nothwendig eine Jnte-
grirung außer uns entsprechen: der Vernunft des Individuums eine höhere
Vernunft, der Idee Gottes ein Gott. Und dieser Gott muß nothwendig ein
reales Wesen sein und da wir die Selbstthätigkeit und Selbstbestimmung in ihrer
höchsten Potenzirung uns nur als etwas Persönliches vorstellen können, so
muß es ein realer und persönlicher Gott sein" (II, 453). Aber dies sagen
wir allerdings: Will man die Menschheit als realen Organismus fassen, so
muß auch Gott eine Realität sein, auf welche die Gedanken der Einzelnen sich
wirklich, d. h. einwirkend und Wirkungen erleidend zu wenden vermögen. Eines
steht und fällt mit dem andern.

Und vielleicht noch mehr. Eine seltsame mythologische Mähr, sür viele
wie aus lange vergangener Zeit, rufen Schäffle wie Lilienfeld, besonders aber
der letztere, in diesem Zusammenhange wieder wach. An eine alte und fast
veraltete Rede erinnern sie, die einzige in dieser Art, nach der die Mensch¬
heit ebenfalls ein wirklicher Leib sein sollte, und die Legende, an die
solche Rede sich knüpft, ist keine andere als die allen Ungebildeten und wenigstens
im allgemeinen ja auch den meisten Gebildeten noch bekannte Sage vom Gott¬
menschen Jesus. Wenn Schäffle jedem Theile seines Werkes aufs neue das
etwas ungenau citirte Motto vorsetzt: "Es sind mancherlei Gaben, aber es ist
ein Geist. In einem jeglichen erzeigen sich die Gaben zum gemeinen Nutzen.


Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre.

heitsorganismus. Daß derselbe aus der Willkür seinen Ursprung nähme und
nur hinterher durch das der Menschheit innewohnende organische Element eine
Umbildung erfahren sollte, wird niemand annehmen wollen, Lilienfeld und Schaffte
am wenigsten. Da läßt nun insbesondere der erstere eine eigenthümliche Lösung
durchblicken. Versuchen wir derselben nach der Art, wie wir ihn verstanden
haben, vorzugreifen.

Wir würden folgendermaßen zu schließen geneigt sein: Wenn die Menschen
nicht stürben und noch einiges andere anders wäre, so wäre die ganze Mensch¬
heit von Adam her eine fortdauernde Familie und würde also nach dem Ge¬
sagten einen fortdauernden Familienorganismus zur Darstellung bringen. Daß
dieser Zusammenhang zerrissen ist, treibt den Menschen nur noch mehr an, bei
der Rückwendung seines Geistes auf sich selber auch auf seinen Ursprung zu
reflectiren. Daß derselbe da beim leiblichen Vater nicht stehen bleiben kann,
liegt zu Tage. So schreitet sein Geist zum „Allvater" fort, mit derselben innern
Nothwendigkeit, mit der alle andere Bildung vor sich geht. Daraus folgt eins
mit unumstößlicher Gewißheit: Bildet die ganze Menschheit, sei es
latent schon jetzt, sei es dermaleinst einen realen Organismus,
so kann derselbe nur ein religiöser sein. Das ist eine Wahrheit von
unsäglicher Wichtigkeit. Ja mehr noch. Kant hindert uns freilich mit Lilien¬
feld zu sagen: „Dieser Jntegrirung in uns muß auch nothwendig eine Jnte-
grirung außer uns entsprechen: der Vernunft des Individuums eine höhere
Vernunft, der Idee Gottes ein Gott. Und dieser Gott muß nothwendig ein
reales Wesen sein und da wir die Selbstthätigkeit und Selbstbestimmung in ihrer
höchsten Potenzirung uns nur als etwas Persönliches vorstellen können, so
muß es ein realer und persönlicher Gott sein" (II, 453). Aber dies sagen
wir allerdings: Will man die Menschheit als realen Organismus fassen, so
muß auch Gott eine Realität sein, auf welche die Gedanken der Einzelnen sich
wirklich, d. h. einwirkend und Wirkungen erleidend zu wenden vermögen. Eines
steht und fällt mit dem andern.

Und vielleicht noch mehr. Eine seltsame mythologische Mähr, sür viele
wie aus lange vergangener Zeit, rufen Schäffle wie Lilienfeld, besonders aber
der letztere, in diesem Zusammenhange wieder wach. An eine alte und fast
veraltete Rede erinnern sie, die einzige in dieser Art, nach der die Mensch¬
heit ebenfalls ein wirklicher Leib sein sollte, und die Legende, an die
solche Rede sich knüpft, ist keine andere als die allen Ungebildeten und wenigstens
im allgemeinen ja auch den meisten Gebildeten noch bekannte Sage vom Gott¬
menschen Jesus. Wenn Schäffle jedem Theile seines Werkes aufs neue das
etwas ungenau citirte Motto vorsetzt: „Es sind mancherlei Gaben, aber es ist
ein Geist. In einem jeglichen erzeigen sich die Gaben zum gemeinen Nutzen.


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[0074] Lin Wendepunkt in der Gesellschaftslehre. heitsorganismus. Daß derselbe aus der Willkür seinen Ursprung nähme und nur hinterher durch das der Menschheit innewohnende organische Element eine Umbildung erfahren sollte, wird niemand annehmen wollen, Lilienfeld und Schaffte am wenigsten. Da läßt nun insbesondere der erstere eine eigenthümliche Lösung durchblicken. Versuchen wir derselben nach der Art, wie wir ihn verstanden haben, vorzugreifen. Wir würden folgendermaßen zu schließen geneigt sein: Wenn die Menschen nicht stürben und noch einiges andere anders wäre, so wäre die ganze Mensch¬ heit von Adam her eine fortdauernde Familie und würde also nach dem Ge¬ sagten einen fortdauernden Familienorganismus zur Darstellung bringen. Daß dieser Zusammenhang zerrissen ist, treibt den Menschen nur noch mehr an, bei der Rückwendung seines Geistes auf sich selber auch auf seinen Ursprung zu reflectiren. Daß derselbe da beim leiblichen Vater nicht stehen bleiben kann, liegt zu Tage. So schreitet sein Geist zum „Allvater" fort, mit derselben innern Nothwendigkeit, mit der alle andere Bildung vor sich geht. Daraus folgt eins mit unumstößlicher Gewißheit: Bildet die ganze Menschheit, sei es latent schon jetzt, sei es dermaleinst einen realen Organismus, so kann derselbe nur ein religiöser sein. Das ist eine Wahrheit von unsäglicher Wichtigkeit. Ja mehr noch. Kant hindert uns freilich mit Lilien¬ feld zu sagen: „Dieser Jntegrirung in uns muß auch nothwendig eine Jnte- grirung außer uns entsprechen: der Vernunft des Individuums eine höhere Vernunft, der Idee Gottes ein Gott. Und dieser Gott muß nothwendig ein reales Wesen sein und da wir die Selbstthätigkeit und Selbstbestimmung in ihrer höchsten Potenzirung uns nur als etwas Persönliches vorstellen können, so muß es ein realer und persönlicher Gott sein" (II, 453). Aber dies sagen wir allerdings: Will man die Menschheit als realen Organismus fassen, so muß auch Gott eine Realität sein, auf welche die Gedanken der Einzelnen sich wirklich, d. h. einwirkend und Wirkungen erleidend zu wenden vermögen. Eines steht und fällt mit dem andern. Und vielleicht noch mehr. Eine seltsame mythologische Mähr, sür viele wie aus lange vergangener Zeit, rufen Schäffle wie Lilienfeld, besonders aber der letztere, in diesem Zusammenhange wieder wach. An eine alte und fast veraltete Rede erinnern sie, die einzige in dieser Art, nach der die Mensch¬ heit ebenfalls ein wirklicher Leib sein sollte, und die Legende, an die solche Rede sich knüpft, ist keine andere als die allen Ungebildeten und wenigstens im allgemeinen ja auch den meisten Gebildeten noch bekannte Sage vom Gott¬ menschen Jesus. Wenn Schäffle jedem Theile seines Werkes aufs neue das etwas ungenau citirte Motto vorsetzt: „Es sind mancherlei Gaben, aber es ist ein Geist. In einem jeglichen erzeigen sich die Gaben zum gemeinen Nutzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/74>, abgerufen am 14.05.2024.