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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Literatur.

Eigenart des Stoffes, die Heraus- und Durchbildung seiner charakteristischen
Seiten für etwas durchaus nebensächliches. Beide irren, und auf das Ver¬
hältniß, das der einzelne zur Poesie gewonnen hat, kommt es an, welchen
Irrthum er als den leidlicheren betrachtet. Das Endurtheil wird hier sehr ver¬
schieden ausfallen, obwohl schon Lessing die Entscheidung gefällt hat, daß das
Charakteristische, selbst auf Unkosten der Schönheit, der deutschen Poesie ge¬
mäßer sei. Gewiß bleibt immer, daß es schwieriger ist, in der Mitte der Dinge
und auf dem Gebiete zweifelloser real-idealer Dichtung zu verharren, als eine
gewisse akademische Aesthetik sich träumen läßt.

Nur noch eins möchten wir betonen. Die Kritik bringt es mit sich, daß
die Erörterung der Mängel und Irrthümer eines Autors oder Künstlers stets
stärker erscheint als die noch so warme und ehrliche Anerkennung seiner indi¬
viduellen Vorzüge. Auf diese Weise bildet sich wohl im Publicum eine An¬
schauung, als betrachte jede Beurtheilung die Grabmäler der Poeten nur als
Meilenzeiger auf dem Wege zum guten Geschmack. Thatsächlich bleibt jedoch
in jeder echt poetischen Natur, nach schärfster Unterscheidung ihrer Vorzüge und
Fehler, ein undefinirbarer Reiz des Persönlichen, den keine Kritik hinwegnehmen
kann und will und der im reichsten Maße auch deu beiden Geschiedenen zu Gute
kommen möge.




Literatur.

Aus deutscher Culturgeschichte. Bilder und Skizzen aus dem Leben vergangner Tage.
Hannover, Carl Meyer (Gustav Prior), 1873.

Der ungenannte Verfasser des vorliegenden Buches (dessen Verleger, wie die
Jahreszahl zeigt, sich etwas spät zur Versendung von Recensionsexemplaren ent¬
schlossen zu haben scheint) führt uns in seinen Aufzeichnungen in ein armseliges
Dorf des Thüringer Waldes oder des Harzes. Dort verlebte er im Anfange dieses
Jahrhunderts die ersten Jahre seines Lebens in bittrer Armuth, bis ihn der Tod
des Vaters und der Mutter zwangen, den Wanderstab zu ergreifen. Ein vermögender
Verwandter nahm sich seiner an und ließ ihn studieren. Mit der ersten Anstellung,
welche der Verfasser als Prädikant bei einem Pfarrer findet, endet die Darstellung
seines Lebenslaufes. Hinzugefügt sind noch ausführliche Schilderungen aus dem
Leben einer kleinen Provinzialstaot und ihrer "guten Gesellschaft" und aus der
alten Residenz Hannover. Mit einigen Reiseerinnerungen schließt das Buch, das
wir mit Interesse von Anfang bis zu Ende gelesen haben.

Den Preis unter allen Schilderungen, die es umfaßt, möchten wir dem ersten
Abschnitte "Das kleine Dorf und der kleine Knabe" zuerkennen. Der Verfasser
entfaltet zwar in allen seinen Bildern eine bewundernswürdige Gestaltungskraft und
versteht es, Personen und Dinge mit seltner Anschaulichkeit uns vor die Angen
zu führen; nirgends aber tritt diese Fähigkeit so hervor, wie in den prächtigen
Skizzen aus dem Leben des heimatlichen Dorfes und der Wälder, die jenes um¬
schlossen.




Für die Redaction verantwortlich! Johannes Grunvw in Leipzig.
Verlag von F. L. Hcrbig in Leipzig. -- Druck von Carl Marauart in Raudnitz-LciPM-
Literatur.

Eigenart des Stoffes, die Heraus- und Durchbildung seiner charakteristischen
Seiten für etwas durchaus nebensächliches. Beide irren, und auf das Ver¬
hältniß, das der einzelne zur Poesie gewonnen hat, kommt es an, welchen
Irrthum er als den leidlicheren betrachtet. Das Endurtheil wird hier sehr ver¬
schieden ausfallen, obwohl schon Lessing die Entscheidung gefällt hat, daß das
Charakteristische, selbst auf Unkosten der Schönheit, der deutschen Poesie ge¬
mäßer sei. Gewiß bleibt immer, daß es schwieriger ist, in der Mitte der Dinge
und auf dem Gebiete zweifelloser real-idealer Dichtung zu verharren, als eine
gewisse akademische Aesthetik sich träumen läßt.

Nur noch eins möchten wir betonen. Die Kritik bringt es mit sich, daß
die Erörterung der Mängel und Irrthümer eines Autors oder Künstlers stets
stärker erscheint als die noch so warme und ehrliche Anerkennung seiner indi¬
viduellen Vorzüge. Auf diese Weise bildet sich wohl im Publicum eine An¬
schauung, als betrachte jede Beurtheilung die Grabmäler der Poeten nur als
Meilenzeiger auf dem Wege zum guten Geschmack. Thatsächlich bleibt jedoch
in jeder echt poetischen Natur, nach schärfster Unterscheidung ihrer Vorzüge und
Fehler, ein undefinirbarer Reiz des Persönlichen, den keine Kritik hinwegnehmen
kann und will und der im reichsten Maße auch deu beiden Geschiedenen zu Gute
kommen möge.




Literatur.

Aus deutscher Culturgeschichte. Bilder und Skizzen aus dem Leben vergangner Tage.
Hannover, Carl Meyer (Gustav Prior), 1873.

Der ungenannte Verfasser des vorliegenden Buches (dessen Verleger, wie die
Jahreszahl zeigt, sich etwas spät zur Versendung von Recensionsexemplaren ent¬
schlossen zu haben scheint) führt uns in seinen Aufzeichnungen in ein armseliges
Dorf des Thüringer Waldes oder des Harzes. Dort verlebte er im Anfange dieses
Jahrhunderts die ersten Jahre seines Lebens in bittrer Armuth, bis ihn der Tod
des Vaters und der Mutter zwangen, den Wanderstab zu ergreifen. Ein vermögender
Verwandter nahm sich seiner an und ließ ihn studieren. Mit der ersten Anstellung,
welche der Verfasser als Prädikant bei einem Pfarrer findet, endet die Darstellung
seines Lebenslaufes. Hinzugefügt sind noch ausführliche Schilderungen aus dem
Leben einer kleinen Provinzialstaot und ihrer „guten Gesellschaft" und aus der
alten Residenz Hannover. Mit einigen Reiseerinnerungen schließt das Buch, das
wir mit Interesse von Anfang bis zu Ende gelesen haben.

Den Preis unter allen Schilderungen, die es umfaßt, möchten wir dem ersten
Abschnitte „Das kleine Dorf und der kleine Knabe" zuerkennen. Der Verfasser
entfaltet zwar in allen seinen Bildern eine bewundernswürdige Gestaltungskraft und
versteht es, Personen und Dinge mit seltner Anschaulichkeit uns vor die Angen
zu führen; nirgends aber tritt diese Fähigkeit so hervor, wie in den prächtigen
Skizzen aus dem Leben des heimatlichen Dorfes und der Wälder, die jenes um¬
schlossen.




Für die Redaction verantwortlich! Johannes Grunvw in Leipzig.
Verlag von F. L. Hcrbig in Leipzig. — Druck von Carl Marauart in Raudnitz-LciPM-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/186>, abgerufen am 29.04.2024.