Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Kant und die Grfahrungswissenschaften.

um hundertjährigen Jubiläum der "Kritik der reinen Vernunft" hat
Albrecht Krause eine populärwissenschaftliche Darstellung dieses
größten Werkes unsres größten Philosophen herausgegeben,*) Es
fragt sich, ob er damit einem wirklichen Bedürfniß unsrer Zeit
entgegengekommen ist. Unter all den neuern philosophischen Epi¬
gonen wird freilich nicht leicht einer sein, der nicht überzeugt wäre, Kant gründ¬
lich zu kennen und ihn verbessern zu müssen. Aber man findet doch auch hie
und da, namentlich bei philosophirenden Naturforschern, Stimmen, die ehrlich
eingestehen, daß ihnen in Kant manches dunkel geblieben sei, und die den Wunsch
aussprechen, manches kennen zu lernen, was sie aus Kant eben hätten entnehmen
können. Aber diese Stimmen allein sind es nicht, die der Verfasser befriedigen
wollte. Die Hauptsache ist ihm die ganz entschieden originale Auslegung der
"Kritik der reinen Vernunft," die er sich in mühevollem eignem Ringen nach
Erkenntniß und weiteren Ausbau der Kantischen Philosophie erworben hat.

Die seit vielen Jahren von einem philosophischen Lehrer zum andern
überlieferte und noch wenig bestrittene Auffassung ist die, daß Kant in der "Kritik"
unwiderleglich bewiesen habe, daß wir das, was wir eigentlich am liebsten wissen
möchten, was uns am meisten interessirt, das wahre Wesen der Dinge, welches
den Naturerscheinungen zu Grunde liegt, niemals erkennen können. Wir müßten
verzichten und dem entsagen, was uns am meisten am Herzen liegt, dem Er¬
kennen des Dinges an sich, weil unser Erkenntnißvermögen mit bestimmten
Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und bestimmten Fähigkeiten der
Verknüpfung (Kategorien) ausgerüstet ist, welche unsere Erkenntniß der Welt
nothwendig auf dasjenige beschränken, was in diesen Formen uns gerade erscheinen
will, während alles andere, der eigentliche Realgrund der Welt, das Ding an
sich, uns leider verborgen bleiben müsse. Was wir sinnlich wahrnehmen, das
sei ein farbenreiches Traumbild, das die gütige Natur uns vorzaubere, aber
die eigentliche wirkliche Welt an sich und unabhängig von unsern subjectiven
Anschauungsformen, zu deren Erkenntniß würden wir nie gelangen. Die resig-
nirten Worte Hallers: "Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist; zu
glücklich, wenn sie noch die äußere Schale weist!" wurden auch für die Ansicht
Kants gehalten, obwohl er sie selbst ausdrücklich ganz in demselben Sinne
wie Goethe in den bekannten Versen ("Allerdings" und "Ultimatum") wider-



*) Populäre Darstellung von Immanuel Kant's Kritik der reinen Ver-
nunft, Zu ihrem hundertjährigen Jubiläum "erfaßt von Albrecht Krause. Lcihr, M.
Schauenburg, 1881.
Kant und die Grfahrungswissenschaften.

um hundertjährigen Jubiläum der „Kritik der reinen Vernunft" hat
Albrecht Krause eine populärwissenschaftliche Darstellung dieses
größten Werkes unsres größten Philosophen herausgegeben,*) Es
fragt sich, ob er damit einem wirklichen Bedürfniß unsrer Zeit
entgegengekommen ist. Unter all den neuern philosophischen Epi¬
gonen wird freilich nicht leicht einer sein, der nicht überzeugt wäre, Kant gründ¬
lich zu kennen und ihn verbessern zu müssen. Aber man findet doch auch hie
und da, namentlich bei philosophirenden Naturforschern, Stimmen, die ehrlich
eingestehen, daß ihnen in Kant manches dunkel geblieben sei, und die den Wunsch
aussprechen, manches kennen zu lernen, was sie aus Kant eben hätten entnehmen
können. Aber diese Stimmen allein sind es nicht, die der Verfasser befriedigen
wollte. Die Hauptsache ist ihm die ganz entschieden originale Auslegung der
„Kritik der reinen Vernunft," die er sich in mühevollem eignem Ringen nach
Erkenntniß und weiteren Ausbau der Kantischen Philosophie erworben hat.

Die seit vielen Jahren von einem philosophischen Lehrer zum andern
überlieferte und noch wenig bestrittene Auffassung ist die, daß Kant in der „Kritik"
unwiderleglich bewiesen habe, daß wir das, was wir eigentlich am liebsten wissen
möchten, was uns am meisten interessirt, das wahre Wesen der Dinge, welches
den Naturerscheinungen zu Grunde liegt, niemals erkennen können. Wir müßten
verzichten und dem entsagen, was uns am meisten am Herzen liegt, dem Er¬
kennen des Dinges an sich, weil unser Erkenntnißvermögen mit bestimmten
Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und bestimmten Fähigkeiten der
Verknüpfung (Kategorien) ausgerüstet ist, welche unsere Erkenntniß der Welt
nothwendig auf dasjenige beschränken, was in diesen Formen uns gerade erscheinen
will, während alles andere, der eigentliche Realgrund der Welt, das Ding an
sich, uns leider verborgen bleiben müsse. Was wir sinnlich wahrnehmen, das
sei ein farbenreiches Traumbild, das die gütige Natur uns vorzaubere, aber
die eigentliche wirkliche Welt an sich und unabhängig von unsern subjectiven
Anschauungsformen, zu deren Erkenntniß würden wir nie gelangen. Die resig-
nirten Worte Hallers: „Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist; zu
glücklich, wenn sie noch die äußere Schale weist!" wurden auch für die Ansicht
Kants gehalten, obwohl er sie selbst ausdrücklich ganz in demselben Sinne
wie Goethe in den bekannten Versen („Allerdings" und „Ultimatum") wider-



*) Populäre Darstellung von Immanuel Kant's Kritik der reinen Ver-
nunft, Zu ihrem hundertjährigen Jubiläum »erfaßt von Albrecht Krause. Lcihr, M.
Schauenburg, 1881.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0237" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150959"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Kant und die Grfahrungswissenschaften.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_781"> um hundertjährigen Jubiläum der &#x201E;Kritik der reinen Vernunft" hat<lb/>
Albrecht Krause eine populärwissenschaftliche Darstellung dieses<lb/>
größten Werkes unsres größten Philosophen herausgegeben,*) Es<lb/>
fragt sich, ob er damit einem wirklichen Bedürfniß unsrer Zeit<lb/>
entgegengekommen ist. Unter all den neuern philosophischen Epi¬<lb/>
gonen wird freilich nicht leicht einer sein, der nicht überzeugt wäre, Kant gründ¬<lb/>
lich zu kennen und ihn verbessern zu müssen. Aber man findet doch auch hie<lb/>
und da, namentlich bei philosophirenden Naturforschern, Stimmen, die ehrlich<lb/>
eingestehen, daß ihnen in Kant manches dunkel geblieben sei, und die den Wunsch<lb/>
aussprechen, manches kennen zu lernen, was sie aus Kant eben hätten entnehmen<lb/>
können. Aber diese Stimmen allein sind es nicht, die der Verfasser befriedigen<lb/>
wollte. Die Hauptsache ist ihm die ganz entschieden originale Auslegung der<lb/>
&#x201E;Kritik der reinen Vernunft," die er sich in mühevollem eignem Ringen nach<lb/>
Erkenntniß und weiteren Ausbau der Kantischen Philosophie erworben hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_782" next="#ID_783"> Die seit vielen Jahren von einem philosophischen Lehrer zum andern<lb/>
überlieferte und noch wenig bestrittene Auffassung ist die, daß Kant in der &#x201E;Kritik"<lb/>
unwiderleglich bewiesen habe, daß wir das, was wir eigentlich am liebsten wissen<lb/>
möchten, was uns am meisten interessirt, das wahre Wesen der Dinge, welches<lb/>
den Naturerscheinungen zu Grunde liegt, niemals erkennen können. Wir müßten<lb/>
verzichten und dem entsagen, was uns am meisten am Herzen liegt, dem Er¬<lb/>
kennen des Dinges an sich, weil unser Erkenntnißvermögen mit bestimmten<lb/>
Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und bestimmten Fähigkeiten der<lb/>
Verknüpfung (Kategorien) ausgerüstet ist, welche unsere Erkenntniß der Welt<lb/>
nothwendig auf dasjenige beschränken, was in diesen Formen uns gerade erscheinen<lb/>
will, während alles andere, der eigentliche Realgrund der Welt, das Ding an<lb/>
sich, uns leider verborgen bleiben müsse. Was wir sinnlich wahrnehmen, das<lb/>
sei ein farbenreiches Traumbild, das die gütige Natur uns vorzaubere, aber<lb/>
die eigentliche wirkliche Welt an sich und unabhängig von unsern subjectiven<lb/>
Anschauungsformen, zu deren Erkenntniß würden wir nie gelangen. Die resig-<lb/>
nirten Worte Hallers: &#x201E;Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist; zu<lb/>
glücklich, wenn sie noch die äußere Schale weist!" wurden auch für die Ansicht<lb/>
Kants gehalten, obwohl er sie selbst ausdrücklich ganz in demselben Sinne<lb/>
wie Goethe in den bekannten Versen (&#x201E;Allerdings" und &#x201E;Ultimatum") wider-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_39" place="foot"> *) Populäre Darstellung von Immanuel Kant's Kritik der reinen Ver-<lb/>
nunft, Zu ihrem hundertjährigen Jubiläum »erfaßt von Albrecht Krause. Lcihr, M.<lb/>
Schauenburg, 1881.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0237] Kant und die Grfahrungswissenschaften. um hundertjährigen Jubiläum der „Kritik der reinen Vernunft" hat Albrecht Krause eine populärwissenschaftliche Darstellung dieses größten Werkes unsres größten Philosophen herausgegeben,*) Es fragt sich, ob er damit einem wirklichen Bedürfniß unsrer Zeit entgegengekommen ist. Unter all den neuern philosophischen Epi¬ gonen wird freilich nicht leicht einer sein, der nicht überzeugt wäre, Kant gründ¬ lich zu kennen und ihn verbessern zu müssen. Aber man findet doch auch hie und da, namentlich bei philosophirenden Naturforschern, Stimmen, die ehrlich eingestehen, daß ihnen in Kant manches dunkel geblieben sei, und die den Wunsch aussprechen, manches kennen zu lernen, was sie aus Kant eben hätten entnehmen können. Aber diese Stimmen allein sind es nicht, die der Verfasser befriedigen wollte. Die Hauptsache ist ihm die ganz entschieden originale Auslegung der „Kritik der reinen Vernunft," die er sich in mühevollem eignem Ringen nach Erkenntniß und weiteren Ausbau der Kantischen Philosophie erworben hat. Die seit vielen Jahren von einem philosophischen Lehrer zum andern überlieferte und noch wenig bestrittene Auffassung ist die, daß Kant in der „Kritik" unwiderleglich bewiesen habe, daß wir das, was wir eigentlich am liebsten wissen möchten, was uns am meisten interessirt, das wahre Wesen der Dinge, welches den Naturerscheinungen zu Grunde liegt, niemals erkennen können. Wir müßten verzichten und dem entsagen, was uns am meisten am Herzen liegt, dem Er¬ kennen des Dinges an sich, weil unser Erkenntnißvermögen mit bestimmten Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und bestimmten Fähigkeiten der Verknüpfung (Kategorien) ausgerüstet ist, welche unsere Erkenntniß der Welt nothwendig auf dasjenige beschränken, was in diesen Formen uns gerade erscheinen will, während alles andere, der eigentliche Realgrund der Welt, das Ding an sich, uns leider verborgen bleiben müsse. Was wir sinnlich wahrnehmen, das sei ein farbenreiches Traumbild, das die gütige Natur uns vorzaubere, aber die eigentliche wirkliche Welt an sich und unabhängig von unsern subjectiven Anschauungsformen, zu deren Erkenntniß würden wir nie gelangen. Die resig- nirten Worte Hallers: „Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist; zu glücklich, wenn sie noch die äußere Schale weist!" wurden auch für die Ansicht Kants gehalten, obwohl er sie selbst ausdrücklich ganz in demselben Sinne wie Goethe in den bekannten Versen („Allerdings" und „Ultimatum") wider- *) Populäre Darstellung von Immanuel Kant's Kritik der reinen Ver- nunft, Zu ihrem hundertjährigen Jubiläum »erfaßt von Albrecht Krause. Lcihr, M. Schauenburg, 1881.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/237
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/237>, abgerufen am 28.04.2024.