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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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T>le Reichstagswahlen und der Reichskanzler.

le neue Wahl der Volksvertretung im deutschen Reiche ist nunmehr
im wesentlichen vollendet. Die allgemeinen Wahlen schon mußten
auf den, welchem an stetiger und gedeihlicher Entwicklung unsrer
politischen Zustände und Einrichtungen gelegen ist, einen wenig er¬
freulichen Eindruck machen, die zahlreichen Stichwahlen aber haben
das Bild, das jene boten, noch unschöner gestaltet, und die hie und da erforderlich ge¬
wordenen Nachwahlen werden daran nichts bessern. In den Sattel gehoben von
starker Hand, schien das deutsche Volk eine zeitlang wirklich, wie diese Hand erwartete,
reiten, sich im Gleichgewicht halten, sich mäßigen zu können. Jetzt wird man
daran zweifeln dürfen. Ein Mann geworden, wie man vielfach rühmen hörte,
ein nüchterner Rechner mit den vorliegenden Thatsachen, Verhältnissen und
Mitteln, ist es in weiteren Kreisen allmählich wieder zurückgegangen, um endlich
mit diesen Wahlen zu bekunden, daß es schon auf halbem Wege ist, die Kinder¬
schuhe wieder anzuziehen und, der Phrasentrommel des vulgären Liberalismus
folgend, die alten Unarten, die alten politischen Faseleien von neuem zu beginnen.

Zwar hat die Bethörung noch nicht die Ausdehnung erreicht, welche die
fortschrittlich-secessionistische Demagogie erstrebte und hoffte, zwar sind die Wahl¬
ergebnisse noch bei weitem nicht die Erfüllung der Voraussetzungen der liberalen
Oppositionspresse, die von ihnen eine deutsche Wiederholung der englischen Wahl¬
schlacht erwartete, welche Gladstone an Beaconfields Stelle brachte; aber schlimm
genug, Ursache genug zur Trauer für die Freunde des Reiches und zum Jubel
für die Gegner ist das Resultat immerhin. Der politische Schwerpunkt ist
erheblich nach links verrückt, ersprießliche Kompromisse sind unwahrscheinlicher
geworden, Schwankungen und Erschütterungen verhängnißvoller Art können ein¬
treten, die Reaction, von den Liberalen so oft an die Wand gemalt, kann jetzt


Grenzboten VI. 1381. 39


T>le Reichstagswahlen und der Reichskanzler.

le neue Wahl der Volksvertretung im deutschen Reiche ist nunmehr
im wesentlichen vollendet. Die allgemeinen Wahlen schon mußten
auf den, welchem an stetiger und gedeihlicher Entwicklung unsrer
politischen Zustände und Einrichtungen gelegen ist, einen wenig er¬
freulichen Eindruck machen, die zahlreichen Stichwahlen aber haben
das Bild, das jene boten, noch unschöner gestaltet, und die hie und da erforderlich ge¬
wordenen Nachwahlen werden daran nichts bessern. In den Sattel gehoben von
starker Hand, schien das deutsche Volk eine zeitlang wirklich, wie diese Hand erwartete,
reiten, sich im Gleichgewicht halten, sich mäßigen zu können. Jetzt wird man
daran zweifeln dürfen. Ein Mann geworden, wie man vielfach rühmen hörte,
ein nüchterner Rechner mit den vorliegenden Thatsachen, Verhältnissen und
Mitteln, ist es in weiteren Kreisen allmählich wieder zurückgegangen, um endlich
mit diesen Wahlen zu bekunden, daß es schon auf halbem Wege ist, die Kinder¬
schuhe wieder anzuziehen und, der Phrasentrommel des vulgären Liberalismus
folgend, die alten Unarten, die alten politischen Faseleien von neuem zu beginnen.

Zwar hat die Bethörung noch nicht die Ausdehnung erreicht, welche die
fortschrittlich-secessionistische Demagogie erstrebte und hoffte, zwar sind die Wahl¬
ergebnisse noch bei weitem nicht die Erfüllung der Voraussetzungen der liberalen
Oppositionspresse, die von ihnen eine deutsche Wiederholung der englischen Wahl¬
schlacht erwartete, welche Gladstone an Beaconfields Stelle brachte; aber schlimm
genug, Ursache genug zur Trauer für die Freunde des Reiches und zum Jubel
für die Gegner ist das Resultat immerhin. Der politische Schwerpunkt ist
erheblich nach links verrückt, ersprießliche Kompromisse sind unwahrscheinlicher
geworden, Schwankungen und Erschütterungen verhängnißvoller Art können ein¬
treten, die Reaction, von den Liberalen so oft an die Wand gemalt, kann jetzt


Grenzboten VI. 1381. 39
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[0307] [Abbildung] T>le Reichstagswahlen und der Reichskanzler. le neue Wahl der Volksvertretung im deutschen Reiche ist nunmehr im wesentlichen vollendet. Die allgemeinen Wahlen schon mußten auf den, welchem an stetiger und gedeihlicher Entwicklung unsrer politischen Zustände und Einrichtungen gelegen ist, einen wenig er¬ freulichen Eindruck machen, die zahlreichen Stichwahlen aber haben das Bild, das jene boten, noch unschöner gestaltet, und die hie und da erforderlich ge¬ wordenen Nachwahlen werden daran nichts bessern. In den Sattel gehoben von starker Hand, schien das deutsche Volk eine zeitlang wirklich, wie diese Hand erwartete, reiten, sich im Gleichgewicht halten, sich mäßigen zu können. Jetzt wird man daran zweifeln dürfen. Ein Mann geworden, wie man vielfach rühmen hörte, ein nüchterner Rechner mit den vorliegenden Thatsachen, Verhältnissen und Mitteln, ist es in weiteren Kreisen allmählich wieder zurückgegangen, um endlich mit diesen Wahlen zu bekunden, daß es schon auf halbem Wege ist, die Kinder¬ schuhe wieder anzuziehen und, der Phrasentrommel des vulgären Liberalismus folgend, die alten Unarten, die alten politischen Faseleien von neuem zu beginnen. Zwar hat die Bethörung noch nicht die Ausdehnung erreicht, welche die fortschrittlich-secessionistische Demagogie erstrebte und hoffte, zwar sind die Wahl¬ ergebnisse noch bei weitem nicht die Erfüllung der Voraussetzungen der liberalen Oppositionspresse, die von ihnen eine deutsche Wiederholung der englischen Wahl¬ schlacht erwartete, welche Gladstone an Beaconfields Stelle brachte; aber schlimm genug, Ursache genug zur Trauer für die Freunde des Reiches und zum Jubel für die Gegner ist das Resultat immerhin. Der politische Schwerpunkt ist erheblich nach links verrückt, ersprießliche Kompromisse sind unwahrscheinlicher geworden, Schwankungen und Erschütterungen verhängnißvoller Art können ein¬ treten, die Reaction, von den Liberalen so oft an die Wand gemalt, kann jetzt Grenzboten VI. 1381. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/307>, abgerufen am 28.04.2024.