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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.

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Die Klaviermusik seit Robert öchumann.

von einem Propheten die Nachweise eines Statistikers oder die präzise Formu-
lirung des juristischen Gesetzgebers verlangen. Das Übermaß seiner Sympathie
mit den Leidenden schlug in bittere Härte um, wo er eingebildete Leiden ent¬
deckte oder zu entdecken glaubte. Im ganzen fingen die innere Kraft der Über¬
zeugungen und die eigentümliche Gewalt des Ausdruckes, die ihm eigen waren,
um, auch die widerstrebenden Massen zu ergreifen. Die Vorlesungen über
"Heroen, Heroenkultus und das Heroische in der Geschichte" (London 1341) und
"Oliver Cromwells Briefe und Reden, mit Erläuterungen" (London 1845) hatten
daran wohl einen stärkeren Anteil als die einzelnen Flugschriften und Zeitungs¬
artikel, in denen der immer unbarmherziger und schwarzgalliger sich äußernde
Schriftsteller die "öffentliche Meinung" oft so schmerzhaft ins Gesicht schlug,
daß nur die Gewöhnung an die freiesten Meinungsäußerungen in der Presse
und die unverbrüchliche Achtung, welche man vor dem sittlichen Charakter
Carlyles empfand, das englische Publikum veranlassen konnten, jeder seiner Aus¬
sprachen doch wieder eine" gewissen Anteil zu widmen.




Die Klaviermusik seit Robert Schumann.
von Hermann Nretzschmar.

uf den folgenden Blättern soll versucht werden, die musikalischen
Leser der Grenzboten über die nettere Klaviermnsik zu orientiren-
Es scheint hierfür ans mehreren Gründen geboten, das Thema
für diesmal ans die zweihändigen Kompositionen fiir Klavier ein¬
zuschränken.

Der Stoff ist ein ungeheuer großer. Im Jahre 1380 allein erreichte die
Summe der verlegten Hefte mit neuen Originalkompositionen die Höhe von un¬
gefähr 1200. Rechnet man jedes Heft durchschnittlich uur zu 6 Nummern, so
giebt das gegen 8000 neue Klavierstücke. Die einfachen Tänze und Märsche
sind dabei uoch ganz bei Seite gelassen.

Der größte Teil dieser Masse von Klavierkvmpositionen ist eitel Spreu
und von einer Gehaltlosigkeit, für welche man auf dem Gebiete der Literatur
nichts analoges findet. Die schalsten Reimereien ans Rosen und Kosen, auf
Herze" und Schmerzen, die Schaudergeschichten und Sensationsromnne, welche
kein ehrliebender Kolporteur vertreiben mag, stehen geistig immer noch höher
als die Mehrzahl jener Salonstücke, welche wir Woche für Woche in neuer


Die Klaviermusik seit Robert öchumann.

von einem Propheten die Nachweise eines Statistikers oder die präzise Formu-
lirung des juristischen Gesetzgebers verlangen. Das Übermaß seiner Sympathie
mit den Leidenden schlug in bittere Härte um, wo er eingebildete Leiden ent¬
deckte oder zu entdecken glaubte. Im ganzen fingen die innere Kraft der Über¬
zeugungen und die eigentümliche Gewalt des Ausdruckes, die ihm eigen waren,
um, auch die widerstrebenden Massen zu ergreifen. Die Vorlesungen über
„Heroen, Heroenkultus und das Heroische in der Geschichte" (London 1341) und
„Oliver Cromwells Briefe und Reden, mit Erläuterungen" (London 1845) hatten
daran wohl einen stärkeren Anteil als die einzelnen Flugschriften und Zeitungs¬
artikel, in denen der immer unbarmherziger und schwarzgalliger sich äußernde
Schriftsteller die „öffentliche Meinung" oft so schmerzhaft ins Gesicht schlug,
daß nur die Gewöhnung an die freiesten Meinungsäußerungen in der Presse
und die unverbrüchliche Achtung, welche man vor dem sittlichen Charakter
Carlyles empfand, das englische Publikum veranlassen konnten, jeder seiner Aus¬
sprachen doch wieder eine« gewissen Anteil zu widmen.




Die Klaviermusik seit Robert Schumann.
von Hermann Nretzschmar.

uf den folgenden Blättern soll versucht werden, die musikalischen
Leser der Grenzboten über die nettere Klaviermnsik zu orientiren-
Es scheint hierfür ans mehreren Gründen geboten, das Thema
für diesmal ans die zweihändigen Kompositionen fiir Klavier ein¬
zuschränken.

Der Stoff ist ein ungeheuer großer. Im Jahre 1380 allein erreichte die
Summe der verlegten Hefte mit neuen Originalkompositionen die Höhe von un¬
gefähr 1200. Rechnet man jedes Heft durchschnittlich uur zu 6 Nummern, so
giebt das gegen 8000 neue Klavierstücke. Die einfachen Tänze und Märsche
sind dabei uoch ganz bei Seite gelassen.

Der größte Teil dieser Masse von Klavierkvmpositionen ist eitel Spreu
und von einer Gehaltlosigkeit, für welche man auf dem Gebiete der Literatur
nichts analoges findet. Die schalsten Reimereien ans Rosen und Kosen, auf
Herze« und Schmerzen, die Schaudergeschichten und Sensationsromnne, welche
kein ehrliebender Kolporteur vertreiben mag, stehen geistig immer noch höher
als die Mehrzahl jener Salonstücke, welche wir Woche für Woche in neuer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_359176/30>, abgerufen am 05.05.2024.