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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Magyaren und Deutsche.

Mängeln einige Beziehungen hat), bald mit Charles Dickens, dessen Weihnachts¬
märchen und Erzählungen als höchste Potenz des Rührender im Einfachen und
Alltäglichen gelten. Und doch, wenn wir diese Erstlingsbücher wiederum durch¬
blättern, wird uus völlig deutlich, daß Raabe kein Nachahmer und Nachcmpsinder
ist. Es sind Fülle des Lebens, Reichtum der Eindrücke auf eine leicht beweg¬
liche und darnach geschäftig fvrtarbeitcnde Phantasie, die hinter seinen Erfin¬
dungen stehen, nicht literarische Muster. Um das voll zu würdigen, muß mau
vor allem beachten, wie unser Autor trockene Berichte der Chronik, die ver¬
gilbten Blätter alter Überlieferung liest, und wie ihm die einzelnen Lichtstrahlen,
die hie und da aus solcher Lektüre hervorblitzen, zu einer kleinen Sonne zu¬
sammenschießen. Der echte Erfindungsgeist, der alles Leblose, Vergangene, was
er erfährt und schaut, in Leben und Gegenwart zu wandeln sucht, ist nur zu
lebendig in ihm und reißt ihn manchmal über die Grenzlinien des Eindrucks¬
fähigen hinaus.

(Schluß folgt.)




Magyaren und Deutsche.

eltere Leser werden sich noch der rührigen und ausdauernden
Agitation erinnern, welche in der Zeit von 1848 bis 1865 in
der Presse Deutschlands, Frankreichs, Englands und Amerikas
für die Sache der Magyaren entwickelt wurde. Bis dahin hatte
die Welt von dem Lande Ungarn nicht viel mehr gewußt als etwa
von Hinterindien, und Wahres vielleicht noch weniger, da die Hanptgnellen der
Kenntnis die Dichtungen von Lenau, Beck u. f. w. waren. Man schätzte das
Land wegen seiner Weine, ordnete es aber übrigens in die Rubrik jener "in¬
teressanten" Länder, von welchen man sich am liebsten nur erzählen läßt. Um
so überraschender war 1848 die Entdeckung, daß Ungarn nicht ausschließlich von
Noßhirten und slowakischen Drahtbindern bewohnt sei; und auch diese avnueirteu
rasch zu lauter Freiheitshelden, als der Konflikt mit Österreich ausbrach. Jeder¬
mann sympathisirte mit ihnen, der eine, weil sie Revolutionäre waren, der
zweite, weil sie ihr altes Verfassungsrecht verteidigten, der dritte ans alter Ab¬
neigung gegen Österreich u. s. w. Die ZcitungSkorrcspondcnten sorgten dafür,
daß der Leser über den Zusammenhang der Dinge im Unklaren blieb. Der
Übergang von der gesetzlichen Opposition zur offnen Empörung, die Abwendung


Magyaren und Deutsche.

Mängeln einige Beziehungen hat), bald mit Charles Dickens, dessen Weihnachts¬
märchen und Erzählungen als höchste Potenz des Rührender im Einfachen und
Alltäglichen gelten. Und doch, wenn wir diese Erstlingsbücher wiederum durch¬
blättern, wird uus völlig deutlich, daß Raabe kein Nachahmer und Nachcmpsinder
ist. Es sind Fülle des Lebens, Reichtum der Eindrücke auf eine leicht beweg¬
liche und darnach geschäftig fvrtarbeitcnde Phantasie, die hinter seinen Erfin¬
dungen stehen, nicht literarische Muster. Um das voll zu würdigen, muß mau
vor allem beachten, wie unser Autor trockene Berichte der Chronik, die ver¬
gilbten Blätter alter Überlieferung liest, und wie ihm die einzelnen Lichtstrahlen,
die hie und da aus solcher Lektüre hervorblitzen, zu einer kleinen Sonne zu¬
sammenschießen. Der echte Erfindungsgeist, der alles Leblose, Vergangene, was
er erfährt und schaut, in Leben und Gegenwart zu wandeln sucht, ist nur zu
lebendig in ihm und reißt ihn manchmal über die Grenzlinien des Eindrucks¬
fähigen hinaus.

(Schluß folgt.)




Magyaren und Deutsche.

eltere Leser werden sich noch der rührigen und ausdauernden
Agitation erinnern, welche in der Zeit von 1848 bis 1865 in
der Presse Deutschlands, Frankreichs, Englands und Amerikas
für die Sache der Magyaren entwickelt wurde. Bis dahin hatte
die Welt von dem Lande Ungarn nicht viel mehr gewußt als etwa
von Hinterindien, und Wahres vielleicht noch weniger, da die Hanptgnellen der
Kenntnis die Dichtungen von Lenau, Beck u. f. w. waren. Man schätzte das
Land wegen seiner Weine, ordnete es aber übrigens in die Rubrik jener „in¬
teressanten" Länder, von welchen man sich am liebsten nur erzählen läßt. Um
so überraschender war 1848 die Entdeckung, daß Ungarn nicht ausschließlich von
Noßhirten und slowakischen Drahtbindern bewohnt sei; und auch diese avnueirteu
rasch zu lauter Freiheitshelden, als der Konflikt mit Österreich ausbrach. Jeder¬
mann sympathisirte mit ihnen, der eine, weil sie Revolutionäre waren, der
zweite, weil sie ihr altes Verfassungsrecht verteidigten, der dritte ans alter Ab¬
neigung gegen Österreich u. s. w. Die ZcitungSkorrcspondcnten sorgten dafür,
daß der Leser über den Zusammenhang der Dinge im Unklaren blieb. Der
Übergang von der gesetzlichen Opposition zur offnen Empörung, die Abwendung


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[0355] Magyaren und Deutsche. Mängeln einige Beziehungen hat), bald mit Charles Dickens, dessen Weihnachts¬ märchen und Erzählungen als höchste Potenz des Rührender im Einfachen und Alltäglichen gelten. Und doch, wenn wir diese Erstlingsbücher wiederum durch¬ blättern, wird uus völlig deutlich, daß Raabe kein Nachahmer und Nachcmpsinder ist. Es sind Fülle des Lebens, Reichtum der Eindrücke auf eine leicht beweg¬ liche und darnach geschäftig fvrtarbeitcnde Phantasie, die hinter seinen Erfin¬ dungen stehen, nicht literarische Muster. Um das voll zu würdigen, muß mau vor allem beachten, wie unser Autor trockene Berichte der Chronik, die ver¬ gilbten Blätter alter Überlieferung liest, und wie ihm die einzelnen Lichtstrahlen, die hie und da aus solcher Lektüre hervorblitzen, zu einer kleinen Sonne zu¬ sammenschießen. Der echte Erfindungsgeist, der alles Leblose, Vergangene, was er erfährt und schaut, in Leben und Gegenwart zu wandeln sucht, ist nur zu lebendig in ihm und reißt ihn manchmal über die Grenzlinien des Eindrucks¬ fähigen hinaus. (Schluß folgt.) Magyaren und Deutsche. eltere Leser werden sich noch der rührigen und ausdauernden Agitation erinnern, welche in der Zeit von 1848 bis 1865 in der Presse Deutschlands, Frankreichs, Englands und Amerikas für die Sache der Magyaren entwickelt wurde. Bis dahin hatte die Welt von dem Lande Ungarn nicht viel mehr gewußt als etwa von Hinterindien, und Wahres vielleicht noch weniger, da die Hanptgnellen der Kenntnis die Dichtungen von Lenau, Beck u. f. w. waren. Man schätzte das Land wegen seiner Weine, ordnete es aber übrigens in die Rubrik jener „in¬ teressanten" Länder, von welchen man sich am liebsten nur erzählen läßt. Um so überraschender war 1848 die Entdeckung, daß Ungarn nicht ausschließlich von Noßhirten und slowakischen Drahtbindern bewohnt sei; und auch diese avnueirteu rasch zu lauter Freiheitshelden, als der Konflikt mit Österreich ausbrach. Jeder¬ mann sympathisirte mit ihnen, der eine, weil sie Revolutionäre waren, der zweite, weil sie ihr altes Verfassungsrecht verteidigten, der dritte ans alter Ab¬ neigung gegen Österreich u. s. w. Die ZcitungSkorrcspondcnten sorgten dafür, daß der Leser über den Zusammenhang der Dinge im Unklaren blieb. Der Übergang von der gesetzlichen Opposition zur offnen Empörung, die Abwendung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/355>, abgerufen am 06.05.2024.