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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Wilhelm Raabe.

ganzen der Stil eines Poeten, welcher sein Gesetz von der jeweiligen Aufgabe
empfängt. Die reine Durchblildnng des objektiven Darstellers ist dem Humo¬
risten versagt, dafür treten andre Eigenschaften und Vorzüge ins Spiel.

Betrachten wir die Schöpfungen Raabcs im einzelnen, so möchten wir mit
einem vollen Lobe seines graziös lebendigen, durch und durch liebenswürdigen,
wenn auch ebenso anspruchslosen Erstlingswerkes "Die Chronik der Sperlings¬
gasse" (1837) anheben. Es ist ganz gewiß, daß dies Büchlein im Embryo
eine große Zahl der Vorzüge aller späteren Raabeschen Schriften aufweist, daß
eS um seiner eigentümlichen Verbindung lebhafter geurebildlicher Schilderung
und lyrischer Stimmung, um eines jugendlichen Hauches und Tones willen, der
hindurchgeht, die Teilnahme voll verdient, die es gefunden hat. Nur dagegen
möchten wir Verwahrung einlegen, daß es nun von gewissen Seiten ohne
weiteres als Raabes bestes Buch bezeichnet wird. Zu den vielen Marotten
der Gegenwart gehört es, in irgend eiuer Schöpfung oder einem beliebigen
Buche die Quintessenz eines Dichters haben zu wollen. Als ob selbst der
"Faust" so ohne weiteres die "Quintessenz" Goethes wäre! Wo man merkt,
daß ein Autor solcher Kurzlebigkeit und Zusannucnpressnng Widerstand entgegen¬
setzt, erkiest man frischweg ein beliebiges Buch, am liebste" eine erste Schrift
desselben, und giebt die Parole aus, daß alles, was wertvoll an diesem Talente
sei, sich in dem einen "Wurf" zusammendränge. Heyse ist L'Arrabiata, Verthold
Auerbach "Die Frau Professor!"," Kinkel ist "Otto der Schütz" und Grego-
rovius die "Römischen Figuren" -- wer hat, hundertfältig variirt, den Unsinn
moderner Hast und Übersättigung nicht immer wieder vernommen? Im Ver-
gleich mit den angeführten Beispielen kommt der Autor der "Chronik der
Spcrliugsgasse" uoch nicht einmal so übel weg, ein Keim seiner ganzen späteren
Entfaltung steckt in dem einen kleinen Buche? aber wer sich damit begnügt,
bringt sich um eine gute Reihe erfrischender Eindrücke, denn es ist Raabe (der
sich damals als Jakob Corvinus in die Literatur einführte) nicht eingefallen,
sein "Bestes" und dem kleinen, an feinen Beobachtungen und reinen Empfin¬
dungen reichen Büchlein auszugeben. Die Phantasiefrische, welche sich in der
"Chronik der Spcrliugsgasse" kundgab, die Teilnahme des Dichters an Leid und
Freude des Lebens waren eben nachhaltiger und ausgiebiger als die Empfänglichkeit
jenes Teiles der modernen Lesewelt, welcher unablässig nach Quintessenzen trachtet.
Schon die zweite Darbietung Raabcs "Halb Mähr halb mehr" (1859) mit den
durch und durch poetischen "Weihnachtsgeldern" erwies, daß unser Schriftsteller
noch andre Töne anzuschlagen und die in dem Erstlingsbuche angeschlagenen noch
voller, wirksamer erklingen zu lassen wisse. Von Komposition im größeren
Sinne ist auch da uoch wenig die Rede, aber eine starke Fähigkeit, gerade den Mo¬
ment jeder Erfindung hervorzukehren, der dem Autor Stimmungsfülle gestattet
und den Leser in die Stimmung unwiderstehlich hineinzieht. Raabe ist in diesem
Betracht bald mit Jean Paul verglichen worden (zu dem er übrigens in seinen


Wilhelm Raabe.

ganzen der Stil eines Poeten, welcher sein Gesetz von der jeweiligen Aufgabe
empfängt. Die reine Durchblildnng des objektiven Darstellers ist dem Humo¬
risten versagt, dafür treten andre Eigenschaften und Vorzüge ins Spiel.

Betrachten wir die Schöpfungen Raabcs im einzelnen, so möchten wir mit
einem vollen Lobe seines graziös lebendigen, durch und durch liebenswürdigen,
wenn auch ebenso anspruchslosen Erstlingswerkes „Die Chronik der Sperlings¬
gasse" (1837) anheben. Es ist ganz gewiß, daß dies Büchlein im Embryo
eine große Zahl der Vorzüge aller späteren Raabeschen Schriften aufweist, daß
eS um seiner eigentümlichen Verbindung lebhafter geurebildlicher Schilderung
und lyrischer Stimmung, um eines jugendlichen Hauches und Tones willen, der
hindurchgeht, die Teilnahme voll verdient, die es gefunden hat. Nur dagegen
möchten wir Verwahrung einlegen, daß es nun von gewissen Seiten ohne
weiteres als Raabes bestes Buch bezeichnet wird. Zu den vielen Marotten
der Gegenwart gehört es, in irgend eiuer Schöpfung oder einem beliebigen
Buche die Quintessenz eines Dichters haben zu wollen. Als ob selbst der
„Faust" so ohne weiteres die „Quintessenz" Goethes wäre! Wo man merkt,
daß ein Autor solcher Kurzlebigkeit und Zusannucnpressnng Widerstand entgegen¬
setzt, erkiest man frischweg ein beliebiges Buch, am liebste» eine erste Schrift
desselben, und giebt die Parole aus, daß alles, was wertvoll an diesem Talente
sei, sich in dem einen „Wurf" zusammendränge. Heyse ist L'Arrabiata, Verthold
Auerbach „Die Frau Professor!»," Kinkel ist „Otto der Schütz" und Grego-
rovius die „Römischen Figuren" — wer hat, hundertfältig variirt, den Unsinn
moderner Hast und Übersättigung nicht immer wieder vernommen? Im Ver-
gleich mit den angeführten Beispielen kommt der Autor der „Chronik der
Spcrliugsgasse" uoch nicht einmal so übel weg, ein Keim seiner ganzen späteren
Entfaltung steckt in dem einen kleinen Buche? aber wer sich damit begnügt,
bringt sich um eine gute Reihe erfrischender Eindrücke, denn es ist Raabe (der
sich damals als Jakob Corvinus in die Literatur einführte) nicht eingefallen,
sein „Bestes" und dem kleinen, an feinen Beobachtungen und reinen Empfin¬
dungen reichen Büchlein auszugeben. Die Phantasiefrische, welche sich in der
„Chronik der Spcrliugsgasse" kundgab, die Teilnahme des Dichters an Leid und
Freude des Lebens waren eben nachhaltiger und ausgiebiger als die Empfänglichkeit
jenes Teiles der modernen Lesewelt, welcher unablässig nach Quintessenzen trachtet.
Schon die zweite Darbietung Raabcs „Halb Mähr halb mehr" (1859) mit den
durch und durch poetischen „Weihnachtsgeldern" erwies, daß unser Schriftsteller
noch andre Töne anzuschlagen und die in dem Erstlingsbuche angeschlagenen noch
voller, wirksamer erklingen zu lassen wisse. Von Komposition im größeren
Sinne ist auch da uoch wenig die Rede, aber eine starke Fähigkeit, gerade den Mo¬
ment jeder Erfindung hervorzukehren, der dem Autor Stimmungsfülle gestattet
und den Leser in die Stimmung unwiderstehlich hineinzieht. Raabe ist in diesem
Betracht bald mit Jean Paul verglichen worden (zu dem er übrigens in seinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/354>, abgerufen am 19.05.2024.