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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Gladstone und die parlamentarische Redefreiheit.

cum unsre liberalen Parlamentarier in diesen Tagen die Blicke
nach England richteten, so sahen sie Dinge vor sich gehen, welche
ihnen zu denken geben und denen, die weniger zu denken als mit
Phrasen zu hantiren gewöhnt sind, als Zeichen und Wunder er¬
scheinen mußten. Zugleich aber forderten diese Dinge zu einem
Vergleiche mit den sehr mäßigen Beschränkungen der parlamentarischen Rede¬
freiheit auf, die Fürst Bismarck 1879 vorschlug, und die im Lager der Libe¬
ralen mit einem so großen Aufwande von sittlicher Entrüstung aufgenommen und
abgelehnt wurden. Dem britischen Unterhause, dem Musterbilde der liberalen
Parteien Deutschlands, wagte der liberalste Minister, den England seit Jahr¬
zehnten gesehen hat, eine Geschäftsordnung zur Annahme zu empfehlen, welche
in ihrem wichtigsten Paragraphen im unmittelbarsten und schroffsten Gegensatze
zu der herkömmlichen Redefreiheit der Abgeordneten steht, indem sie nicht bloß
Einzelnen, sondern ganzen Parteien den Mund zuspunden soll. Die Sache ist
mich insofern von nicht gewöhnlichem Interesse, als jener Minister, dessen Stellung
seit einiger Zeit überhaupt keine recht feste mehr ist, darüber vielleicht zu Falle
kommen kann, und so wollen wir sie einer eingehenden Beleuchtung unterziehen.

Gladstone steht im Begriffe, im Hause der Gemeinen zu London eine neue
Geschäftsordnung (nsvv Rulss ok kronöäm's) einzudringen, die nnter ihren Be¬
stimmungen nichts Geringeres als die in Frankreich übliche Olöwro enthält, d. h.
den Debattenschluß nach dem Willen der einfachen Majorität. Veranlassung dazu
hat ihm das Verfahren der irischen Mitglieder des Hauses gegeben, die im vorigen
Jahre die Abstimmung über gewisse gegen die Absichten ihrer Partei gerichteten
Gesetzentwürfe mit allen denkbaren parlamentarischen Mitteln zu verzögern und
womöglich zu vereiteln suchten und mit diesem Bestreben in der That Unerhörtes


Grcnzbvtnl I. 1382. "1


Gladstone und die parlamentarische Redefreiheit.

cum unsre liberalen Parlamentarier in diesen Tagen die Blicke
nach England richteten, so sahen sie Dinge vor sich gehen, welche
ihnen zu denken geben und denen, die weniger zu denken als mit
Phrasen zu hantiren gewöhnt sind, als Zeichen und Wunder er¬
scheinen mußten. Zugleich aber forderten diese Dinge zu einem
Vergleiche mit den sehr mäßigen Beschränkungen der parlamentarischen Rede¬
freiheit auf, die Fürst Bismarck 1879 vorschlug, und die im Lager der Libe¬
ralen mit einem so großen Aufwande von sittlicher Entrüstung aufgenommen und
abgelehnt wurden. Dem britischen Unterhause, dem Musterbilde der liberalen
Parteien Deutschlands, wagte der liberalste Minister, den England seit Jahr¬
zehnten gesehen hat, eine Geschäftsordnung zur Annahme zu empfehlen, welche
in ihrem wichtigsten Paragraphen im unmittelbarsten und schroffsten Gegensatze
zu der herkömmlichen Redefreiheit der Abgeordneten steht, indem sie nicht bloß
Einzelnen, sondern ganzen Parteien den Mund zuspunden soll. Die Sache ist
mich insofern von nicht gewöhnlichem Interesse, als jener Minister, dessen Stellung
seit einiger Zeit überhaupt keine recht feste mehr ist, darüber vielleicht zu Falle
kommen kann, und so wollen wir sie einer eingehenden Beleuchtung unterziehen.

Gladstone steht im Begriffe, im Hause der Gemeinen zu London eine neue
Geschäftsordnung (nsvv Rulss ok kronöäm's) einzudringen, die nnter ihren Be¬
stimmungen nichts Geringeres als die in Frankreich übliche Olöwro enthält, d. h.
den Debattenschluß nach dem Willen der einfachen Majorität. Veranlassung dazu
hat ihm das Verfahren der irischen Mitglieder des Hauses gegeben, die im vorigen
Jahre die Abstimmung über gewisse gegen die Absichten ihrer Partei gerichteten
Gesetzentwürfe mit allen denkbaren parlamentarischen Mitteln zu verzögern und
womöglich zu vereiteln suchten und mit diesem Bestreben in der That Unerhörtes


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[0489] [Abbildung] Gladstone und die parlamentarische Redefreiheit. cum unsre liberalen Parlamentarier in diesen Tagen die Blicke nach England richteten, so sahen sie Dinge vor sich gehen, welche ihnen zu denken geben und denen, die weniger zu denken als mit Phrasen zu hantiren gewöhnt sind, als Zeichen und Wunder er¬ scheinen mußten. Zugleich aber forderten diese Dinge zu einem Vergleiche mit den sehr mäßigen Beschränkungen der parlamentarischen Rede¬ freiheit auf, die Fürst Bismarck 1879 vorschlug, und die im Lager der Libe¬ ralen mit einem so großen Aufwande von sittlicher Entrüstung aufgenommen und abgelehnt wurden. Dem britischen Unterhause, dem Musterbilde der liberalen Parteien Deutschlands, wagte der liberalste Minister, den England seit Jahr¬ zehnten gesehen hat, eine Geschäftsordnung zur Annahme zu empfehlen, welche in ihrem wichtigsten Paragraphen im unmittelbarsten und schroffsten Gegensatze zu der herkömmlichen Redefreiheit der Abgeordneten steht, indem sie nicht bloß Einzelnen, sondern ganzen Parteien den Mund zuspunden soll. Die Sache ist mich insofern von nicht gewöhnlichem Interesse, als jener Minister, dessen Stellung seit einiger Zeit überhaupt keine recht feste mehr ist, darüber vielleicht zu Falle kommen kann, und so wollen wir sie einer eingehenden Beleuchtung unterziehen. Gladstone steht im Begriffe, im Hause der Gemeinen zu London eine neue Geschäftsordnung (nsvv Rulss ok kronöäm's) einzudringen, die nnter ihren Be¬ stimmungen nichts Geringeres als die in Frankreich übliche Olöwro enthält, d. h. den Debattenschluß nach dem Willen der einfachen Majorität. Veranlassung dazu hat ihm das Verfahren der irischen Mitglieder des Hauses gegeben, die im vorigen Jahre die Abstimmung über gewisse gegen die Absichten ihrer Partei gerichteten Gesetzentwürfe mit allen denkbaren parlamentarischen Mitteln zu verzögern und womöglich zu vereiteln suchten und mit diesem Bestreben in der That Unerhörtes Grcnzbvtnl I. 1382. «1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/489>, abgerufen am 06.05.2024.