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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Zweites Quartal.

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Albrecht von Hallers Gedichte.

le hundertste Wiederkehr des Tvdestnges Albrechts von Haller in,
December 1877 brachte in engern und weitern Kreisen zum Be¬
wußtsein, daß schon seit längerer Zeit eine würdige Ausgabe der
Dichtungen des gelehrten Poeten und daneben ein Lebensbild
eines in seiner Zeit und unter den eigentümlichen Bedingungen,
unter denen er erwuchs, hoch hervorragenden Mannes fehle. Demgemäß über¬
nahm Ludwig Hirzel, Professor der deutscheu Literatur an der Berner Univer¬
sität, für die von Jakob Baechtold und Ferdinand Vetter Heransgegebene "Biblio¬
thek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes" die
Herausgabe der Gedichte Hallers.*) In einem höchst stattlichen Bande, von
dem allerdings die Gedichte selbst nur etwa ein Drittel einnehmen, während
der biographischen Einleitung etwa zwei Drittel gehören, werden die sämmtlichen
poetischen Lebensäußerungen des Dichters der "Alpen" in einer bisher nicht
erreichten Vollständigkeit der Teilnahme unsrer Zeit wiederum nahe gebracht.
Daß diese Teilnahme im wesentlichen nur noch eine "historische" sein kann, daß
sich reiner und unmittelbarer Genuß aus deu Gedichten des Berner Patriziers
und berühmten Naturforschers nicht mehr schöpfen läßt, kann einer Generation wenig
verschlagen, welche überhaupt die historische Bedeutung über die ästhetische setzt.
In Hallers besondern: Falle darf man daran erinnern, daß die Eigenart des
Dichters und feine Wirkungen in den ersten beiden Dritteln des achtzehnten
Jahrhunderts allerdings ein tiefergehendes historisches Interesse bedingen, als
sich für ganze Reihen älterer lyrischer und epischer Gedichte, Dramen und Ro¬
mane aufbringen läßt, welche jetzt eifrig neu edirt werden. Der wackere Justus
Möser, welcher einst Haller mit den Worten chnmkterisirte: "Haller war unser
erster Dichter. Wir hatten vor Haltern nnr Nersemacher," vergaß dabei zwar
Johann Christian Günther, aber erfaßte das eigenste Verdienst des didaktischen
Lyrikers vollkommen. Dr. Hirzel, der Herausgeber, faßt das Resultat seiner
liebevolle" Beschäftigung mit Hallers Gedichten in die treffenden Worte zu¬
sammen: "Er riß die deutsche. Dichtung aus deu Trivialitäten, in welche die
Opposition gegen die Schlesier geführt hatte, wieder empor, ohne daß er jedoch
selbst aufs neue in das hohle Pathos der frühern Zeit zurückfiel. Dem In¬
halt nach erhob und befruchtete Haller die deutsche Poesie, indem er, angeregt
durch die philosophirende Dichtung der Engländer, die höchsten Fragen im Be¬
reiche von Glauben und Wissen, von Staat und Gesellschaft, so wie seine Zeit und



*) Albrecht von Halters Gedichte. Herausgegeben und eingeleitet von Ludwi g
Hirzel. Fr-menseld, I. Huber. 1832.
Grenzboten II. 1382, M
Albrecht von Hallers Gedichte.

le hundertste Wiederkehr des Tvdestnges Albrechts von Haller in,
December 1877 brachte in engern und weitern Kreisen zum Be¬
wußtsein, daß schon seit längerer Zeit eine würdige Ausgabe der
Dichtungen des gelehrten Poeten und daneben ein Lebensbild
eines in seiner Zeit und unter den eigentümlichen Bedingungen,
unter denen er erwuchs, hoch hervorragenden Mannes fehle. Demgemäß über¬
nahm Ludwig Hirzel, Professor der deutscheu Literatur an der Berner Univer¬
sität, für die von Jakob Baechtold und Ferdinand Vetter Heransgegebene „Biblio¬
thek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes" die
Herausgabe der Gedichte Hallers.*) In einem höchst stattlichen Bande, von
dem allerdings die Gedichte selbst nur etwa ein Drittel einnehmen, während
der biographischen Einleitung etwa zwei Drittel gehören, werden die sämmtlichen
poetischen Lebensäußerungen des Dichters der „Alpen" in einer bisher nicht
erreichten Vollständigkeit der Teilnahme unsrer Zeit wiederum nahe gebracht.
Daß diese Teilnahme im wesentlichen nur noch eine „historische" sein kann, daß
sich reiner und unmittelbarer Genuß aus deu Gedichten des Berner Patriziers
und berühmten Naturforschers nicht mehr schöpfen läßt, kann einer Generation wenig
verschlagen, welche überhaupt die historische Bedeutung über die ästhetische setzt.
In Hallers besondern: Falle darf man daran erinnern, daß die Eigenart des
Dichters und feine Wirkungen in den ersten beiden Dritteln des achtzehnten
Jahrhunderts allerdings ein tiefergehendes historisches Interesse bedingen, als
sich für ganze Reihen älterer lyrischer und epischer Gedichte, Dramen und Ro¬
mane aufbringen läßt, welche jetzt eifrig neu edirt werden. Der wackere Justus
Möser, welcher einst Haller mit den Worten chnmkterisirte: „Haller war unser
erster Dichter. Wir hatten vor Haltern nnr Nersemacher," vergaß dabei zwar
Johann Christian Günther, aber erfaßte das eigenste Verdienst des didaktischen
Lyrikers vollkommen. Dr. Hirzel, der Herausgeber, faßt das Resultat seiner
liebevolle» Beschäftigung mit Hallers Gedichten in die treffenden Worte zu¬
sammen: „Er riß die deutsche. Dichtung aus deu Trivialitäten, in welche die
Opposition gegen die Schlesier geführt hatte, wieder empor, ohne daß er jedoch
selbst aufs neue in das hohle Pathos der frühern Zeit zurückfiel. Dem In¬
halt nach erhob und befruchtete Haller die deutsche Poesie, indem er, angeregt
durch die philosophirende Dichtung der Engländer, die höchsten Fragen im Be¬
reiche von Glauben und Wissen, von Staat und Gesellschaft, so wie seine Zeit und



*) Albrecht von Halters Gedichte. Herausgegeben und eingeleitet von Ludwi g
Hirzel. Fr-menseld, I. Huber. 1832.
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[0181] Albrecht von Hallers Gedichte. le hundertste Wiederkehr des Tvdestnges Albrechts von Haller in, December 1877 brachte in engern und weitern Kreisen zum Be¬ wußtsein, daß schon seit längerer Zeit eine würdige Ausgabe der Dichtungen des gelehrten Poeten und daneben ein Lebensbild eines in seiner Zeit und unter den eigentümlichen Bedingungen, unter denen er erwuchs, hoch hervorragenden Mannes fehle. Demgemäß über¬ nahm Ludwig Hirzel, Professor der deutscheu Literatur an der Berner Univer¬ sität, für die von Jakob Baechtold und Ferdinand Vetter Heransgegebene „Biblio¬ thek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes" die Herausgabe der Gedichte Hallers.*) In einem höchst stattlichen Bande, von dem allerdings die Gedichte selbst nur etwa ein Drittel einnehmen, während der biographischen Einleitung etwa zwei Drittel gehören, werden die sämmtlichen poetischen Lebensäußerungen des Dichters der „Alpen" in einer bisher nicht erreichten Vollständigkeit der Teilnahme unsrer Zeit wiederum nahe gebracht. Daß diese Teilnahme im wesentlichen nur noch eine „historische" sein kann, daß sich reiner und unmittelbarer Genuß aus deu Gedichten des Berner Patriziers und berühmten Naturforschers nicht mehr schöpfen läßt, kann einer Generation wenig verschlagen, welche überhaupt die historische Bedeutung über die ästhetische setzt. In Hallers besondern: Falle darf man daran erinnern, daß die Eigenart des Dichters und feine Wirkungen in den ersten beiden Dritteln des achtzehnten Jahrhunderts allerdings ein tiefergehendes historisches Interesse bedingen, als sich für ganze Reihen älterer lyrischer und epischer Gedichte, Dramen und Ro¬ mane aufbringen läßt, welche jetzt eifrig neu edirt werden. Der wackere Justus Möser, welcher einst Haller mit den Worten chnmkterisirte: „Haller war unser erster Dichter. Wir hatten vor Haltern nnr Nersemacher," vergaß dabei zwar Johann Christian Günther, aber erfaßte das eigenste Verdienst des didaktischen Lyrikers vollkommen. Dr. Hirzel, der Herausgeber, faßt das Resultat seiner liebevolle» Beschäftigung mit Hallers Gedichten in die treffenden Worte zu¬ sammen: „Er riß die deutsche. Dichtung aus deu Trivialitäten, in welche die Opposition gegen die Schlesier geführt hatte, wieder empor, ohne daß er jedoch selbst aufs neue in das hohle Pathos der frühern Zeit zurückfiel. Dem In¬ halt nach erhob und befruchtete Haller die deutsche Poesie, indem er, angeregt durch die philosophirende Dichtung der Engländer, die höchsten Fragen im Be¬ reiche von Glauben und Wissen, von Staat und Gesellschaft, so wie seine Zeit und *) Albrecht von Halters Gedichte. Herausgegeben und eingeleitet von Ludwi g Hirzel. Fr-menseld, I. Huber. 1832. Grenzboten II. 1382, M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89806/181>, abgerufen am 02.05.2024.