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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Romane aus der Völkerwanderung.

le allgemeine Meinung über Wesen und Leben der Literatur neigt
dahin, von schlimmen Tagen der Literatur zu sprechen, sobald
eine Überzahl von vermeintlich Berufenen sich neben den wenigen
Auserwählten hervordrängt, sobald der Schein an Stelle des
Echten und Vortrefflichen gepriesen wird, sobald die Mittelmäßig¬
keit und jener fröhliche Dilettantismus, welcher es noch nicht einmal zur Mittel¬
mäßigkeit bringt, breit im Vordergrunde der literarischen Bühne steht. Doch
ist dies bei näherer Betrachtung der immer wiederkehrende Zustand in allen,
auch den gepriesensten Literaturperioden, und so wenig erfreulich die beständige
Bevorzugung oder mindestens Gleichschätzung des Untergeordneten oder gar
Nichtigen ist, sie gehört eben zu jenem "stillschweigenden Vertrag," auf
den sich "Rmneaus Neffe" in Diderots gleichnamigen geistreichen: Dialog be¬
ständig beruft. Größere Dichter und bessere Schriftsteller, als heute leben,
haben sie ertragen, Goethe und Schiller haben nicht nur Johann Jakob Engel,
sondern auch Kotzebue und August Lafontaine als Gleichgeordnete neben sich
nennen hören müssen. Es wäre kindisch, wollten die Tüchtigen des Tages darum
am Publikum, an sich und ihrer nachhaltigem Wirkung verzweifeln, weil die
Mode- und Schwindelberühmtheiten für den Augenblick eine sichtbarere Wirkung
hervorbringen. Nein, noch einmal seis gesagt: Nicht das ists, was uns an der
gedeihlichen Fortentwicklung unsrer Dichtung zu Zeiten verzagen läßt und die
schwersten Bedenken erregt, sondern das, daß der verhängnisvolle Zug des Tages,
die Lust zur Überproduktion, zur Ausbeutung eines für die künstlerische Dar¬
stellung neueroberten Gebiets, die Unterordnung unter die schlechten Neigungen
und Unarten des Publikums, die Gleichgiltigkeit gegen poetische Reife und gegen
das Streben nach künstlerischer Vollendung nach und nach auch die wahrhaften
Talente erfaßt, daß unter dem Schutze guter, wohlerworbener Namen dem deut¬
schen Publikum unerfreuliche und unreife Werke oder armselige Wiederholungen
schon oft gegebener Darstellungen immer häusiger und immer unbefangener dar¬
geboten werden.

Wir haben in diesen Blättern schon wiederholt ans die wunderliche Neigung
der Gegenwart zu jener Gattung von Romanen aufmerksam gemacht, welche
nicht als historische, sondern als archäologische Erzählungen bezeichnet werden
müssen, Erzählungen also, in denen nicht die Gestaltung eines poetischen Vor¬
ganges, welcher nur auf dem Hintergrunde einer bestimmten Zeit gedacht werden
kann und demgemäß die Schilderung dieser Zeit mit in sich begreift, sondern
in denen die Mitteilung von gewissen Kenntnissen, die bequeme und gefällige


Romane aus der Völkerwanderung.

le allgemeine Meinung über Wesen und Leben der Literatur neigt
dahin, von schlimmen Tagen der Literatur zu sprechen, sobald
eine Überzahl von vermeintlich Berufenen sich neben den wenigen
Auserwählten hervordrängt, sobald der Schein an Stelle des
Echten und Vortrefflichen gepriesen wird, sobald die Mittelmäßig¬
keit und jener fröhliche Dilettantismus, welcher es noch nicht einmal zur Mittel¬
mäßigkeit bringt, breit im Vordergrunde der literarischen Bühne steht. Doch
ist dies bei näherer Betrachtung der immer wiederkehrende Zustand in allen,
auch den gepriesensten Literaturperioden, und so wenig erfreulich die beständige
Bevorzugung oder mindestens Gleichschätzung des Untergeordneten oder gar
Nichtigen ist, sie gehört eben zu jenem „stillschweigenden Vertrag," auf
den sich „Rmneaus Neffe" in Diderots gleichnamigen geistreichen: Dialog be¬
ständig beruft. Größere Dichter und bessere Schriftsteller, als heute leben,
haben sie ertragen, Goethe und Schiller haben nicht nur Johann Jakob Engel,
sondern auch Kotzebue und August Lafontaine als Gleichgeordnete neben sich
nennen hören müssen. Es wäre kindisch, wollten die Tüchtigen des Tages darum
am Publikum, an sich und ihrer nachhaltigem Wirkung verzweifeln, weil die
Mode- und Schwindelberühmtheiten für den Augenblick eine sichtbarere Wirkung
hervorbringen. Nein, noch einmal seis gesagt: Nicht das ists, was uns an der
gedeihlichen Fortentwicklung unsrer Dichtung zu Zeiten verzagen läßt und die
schwersten Bedenken erregt, sondern das, daß der verhängnisvolle Zug des Tages,
die Lust zur Überproduktion, zur Ausbeutung eines für die künstlerische Dar¬
stellung neueroberten Gebiets, die Unterordnung unter die schlechten Neigungen
und Unarten des Publikums, die Gleichgiltigkeit gegen poetische Reife und gegen
das Streben nach künstlerischer Vollendung nach und nach auch die wahrhaften
Talente erfaßt, daß unter dem Schutze guter, wohlerworbener Namen dem deut¬
schen Publikum unerfreuliche und unreife Werke oder armselige Wiederholungen
schon oft gegebener Darstellungen immer häusiger und immer unbefangener dar¬
geboten werden.

Wir haben in diesen Blättern schon wiederholt ans die wunderliche Neigung
der Gegenwart zu jener Gattung von Romanen aufmerksam gemacht, welche
nicht als historische, sondern als archäologische Erzählungen bezeichnet werden
müssen, Erzählungen also, in denen nicht die Gestaltung eines poetischen Vor¬
ganges, welcher nur auf dem Hintergrunde einer bestimmten Zeit gedacht werden
kann und demgemäß die Schilderung dieser Zeit mit in sich begreift, sondern
in denen die Mitteilung von gewissen Kenntnissen, die bequeme und gefällige


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[0023] Romane aus der Völkerwanderung. le allgemeine Meinung über Wesen und Leben der Literatur neigt dahin, von schlimmen Tagen der Literatur zu sprechen, sobald eine Überzahl von vermeintlich Berufenen sich neben den wenigen Auserwählten hervordrängt, sobald der Schein an Stelle des Echten und Vortrefflichen gepriesen wird, sobald die Mittelmäßig¬ keit und jener fröhliche Dilettantismus, welcher es noch nicht einmal zur Mittel¬ mäßigkeit bringt, breit im Vordergrunde der literarischen Bühne steht. Doch ist dies bei näherer Betrachtung der immer wiederkehrende Zustand in allen, auch den gepriesensten Literaturperioden, und so wenig erfreulich die beständige Bevorzugung oder mindestens Gleichschätzung des Untergeordneten oder gar Nichtigen ist, sie gehört eben zu jenem „stillschweigenden Vertrag," auf den sich „Rmneaus Neffe" in Diderots gleichnamigen geistreichen: Dialog be¬ ständig beruft. Größere Dichter und bessere Schriftsteller, als heute leben, haben sie ertragen, Goethe und Schiller haben nicht nur Johann Jakob Engel, sondern auch Kotzebue und August Lafontaine als Gleichgeordnete neben sich nennen hören müssen. Es wäre kindisch, wollten die Tüchtigen des Tages darum am Publikum, an sich und ihrer nachhaltigem Wirkung verzweifeln, weil die Mode- und Schwindelberühmtheiten für den Augenblick eine sichtbarere Wirkung hervorbringen. Nein, noch einmal seis gesagt: Nicht das ists, was uns an der gedeihlichen Fortentwicklung unsrer Dichtung zu Zeiten verzagen läßt und die schwersten Bedenken erregt, sondern das, daß der verhängnisvolle Zug des Tages, die Lust zur Überproduktion, zur Ausbeutung eines für die künstlerische Dar¬ stellung neueroberten Gebiets, die Unterordnung unter die schlechten Neigungen und Unarten des Publikums, die Gleichgiltigkeit gegen poetische Reife und gegen das Streben nach künstlerischer Vollendung nach und nach auch die wahrhaften Talente erfaßt, daß unter dem Schutze guter, wohlerworbener Namen dem deut¬ schen Publikum unerfreuliche und unreife Werke oder armselige Wiederholungen schon oft gegebener Darstellungen immer häusiger und immer unbefangener dar¬ geboten werden. Wir haben in diesen Blättern schon wiederholt ans die wunderliche Neigung der Gegenwart zu jener Gattung von Romanen aufmerksam gemacht, welche nicht als historische, sondern als archäologische Erzählungen bezeichnet werden müssen, Erzählungen also, in denen nicht die Gestaltung eines poetischen Vor¬ ganges, welcher nur auf dem Hintergrunde einer bestimmten Zeit gedacht werden kann und demgemäß die Schilderung dieser Zeit mit in sich begreift, sondern in denen die Mitteilung von gewissen Kenntnissen, die bequeme und gefällige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/23>, abgerufen am 06.05.2024.