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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Romane aus der Völkerwanderung,

Übermittlung der Resultate gewisser wissenschaftlichen Forschungen an ein verehr¬
liches Publikum in erster Linie steht. Je sernerliegende Zeiten und Zustände
der archäologische Roman behandelt und, wie sich seine Leser schmeicheln, "lebendig"
vorführt, umso stärkern Reiz übt er aus, und umso geringfügiger werden die
Ansprüche an feinen poetischen Gehalt. Von dem archäologischen Roman gilt
in erster Linie, was Gervinus grollend am historischen Roman überhaupt aus¬
gesetzt hat: daß er den Geschichtssinn nicht nähre und deu Kunstsinn zerstöre,
daß er in seiner Weise so gut wie das schlechte Ausstattungsdrama den Sinn
der Leser vom Kern und Wesen der Dinge auf leidige Äußerlichkeiten ablenke,
daß er ein reines Urteil über die poetische Kraft eines Schriftstellers, über die
Fähigkeit, Welt und Leben, Handlungen und Charaktere darzustellen, nur in
seltenen Fällen gestatte. Das deutsche Publikum, dem von jeher alle akademisch
gestempelten Redensarten und alle Behauptungen, die auch nur den Anschein
wissenschaftlichen Ernstes tragen, gewaltig imponirt haben, nimmt ohne weiteres
ans Treu und Glauben an, daß der historische und nun vollends der archäo¬
logische Roman, welcher ja ungewöhnliche und nicht alltäglich zu treffende Kennt¬
nisse voraussetzt, höher stünden als die "Alltagsgeschichte." Nun ist im Gegen¬
teil nichts gewisser, als daß sich in der seelisch tiefen, sinnlich frischen und poetisch
neuen Verlebendigung einer Alltagsgeschichte, die eben keine sein darf, die echte
Dichternatur treuer und reiner bewähren kann als in der Dichtung mit histo¬
rischem Hintergrund. Doch ist nicht die Rede davon, den deutschen Dichtern
das Recht abzusprechen, ihre Stoffe beliebig zu wählen. An sich ist keine Zeit
zu verwerfen und kein Roman, keine Erzählung schon darum archäologisch zu
schelten, weil sie in entlegenen Zeiten und weiten Fernen spielt. Ist der Dichter
gewiß, daß er auf dem fremdartigen Hintergründe ganze, volle Gestalten geben
kann und eine Handlung, die uns poetisch ergreift und unmittelbare, nicht reflek-
tirte Teilnahme weckt, so wähle er getrost jede historische Periode, jedes Land
und Volk, die seine Phantasie anziehen. Die Bedingung bleibt, daß die Dich¬
tung als solche und nicht durch ihr Bei- und Rechenwerk uns fessele.

Dies vorausgesetzt, ist eines einleuchtend: daß die Arbeitsteilung, die Beschrän¬
kung auf die Spezialität, wie sie aus dem Gebiete der Wissenschaft herrscht, in ge¬
sunden Literaturzuständen niemals auf die Dichtung übertragen werden kann.
Wohl soll der Dichter die Grenzen seiner Kraft kennen und sich innerhalb derselben
halten. Aber zwischen dieser Selbsterkenntnis und der Ausbeutung des Gebiets,
aus welchem der zufällige erste Erfolg errungen worden ist, zwischen der klaren
Erkenntnis der eignen Schranken und der eintönigen Wiederholung derselben
Motive, Gestalten und szenischen Wirkungen ist ein gewaltiger Unterschied. Und
wie begrenzt eines Dichters Vorstellungskraft immer sei, so eingeengt kann
sie nicht sein, daß sie gezwungen wäre, nur in einer Zeit, einer Geschichtsperiode
zu verharren, nur in ihr Leben zu erkennen und aus ihr Leben zu schöpfen.
Die poetische Naivität und die poetische Unmittelbarkeit verlangen ganz sicher


Romane aus der Völkerwanderung,

Übermittlung der Resultate gewisser wissenschaftlichen Forschungen an ein verehr¬
liches Publikum in erster Linie steht. Je sernerliegende Zeiten und Zustände
der archäologische Roman behandelt und, wie sich seine Leser schmeicheln, „lebendig"
vorführt, umso stärkern Reiz übt er aus, und umso geringfügiger werden die
Ansprüche an feinen poetischen Gehalt. Von dem archäologischen Roman gilt
in erster Linie, was Gervinus grollend am historischen Roman überhaupt aus¬
gesetzt hat: daß er den Geschichtssinn nicht nähre und deu Kunstsinn zerstöre,
daß er in seiner Weise so gut wie das schlechte Ausstattungsdrama den Sinn
der Leser vom Kern und Wesen der Dinge auf leidige Äußerlichkeiten ablenke,
daß er ein reines Urteil über die poetische Kraft eines Schriftstellers, über die
Fähigkeit, Welt und Leben, Handlungen und Charaktere darzustellen, nur in
seltenen Fällen gestatte. Das deutsche Publikum, dem von jeher alle akademisch
gestempelten Redensarten und alle Behauptungen, die auch nur den Anschein
wissenschaftlichen Ernstes tragen, gewaltig imponirt haben, nimmt ohne weiteres
ans Treu und Glauben an, daß der historische und nun vollends der archäo¬
logische Roman, welcher ja ungewöhnliche und nicht alltäglich zu treffende Kennt¬
nisse voraussetzt, höher stünden als die „Alltagsgeschichte." Nun ist im Gegen¬
teil nichts gewisser, als daß sich in der seelisch tiefen, sinnlich frischen und poetisch
neuen Verlebendigung einer Alltagsgeschichte, die eben keine sein darf, die echte
Dichternatur treuer und reiner bewähren kann als in der Dichtung mit histo¬
rischem Hintergrund. Doch ist nicht die Rede davon, den deutschen Dichtern
das Recht abzusprechen, ihre Stoffe beliebig zu wählen. An sich ist keine Zeit
zu verwerfen und kein Roman, keine Erzählung schon darum archäologisch zu
schelten, weil sie in entlegenen Zeiten und weiten Fernen spielt. Ist der Dichter
gewiß, daß er auf dem fremdartigen Hintergründe ganze, volle Gestalten geben
kann und eine Handlung, die uns poetisch ergreift und unmittelbare, nicht reflek-
tirte Teilnahme weckt, so wähle er getrost jede historische Periode, jedes Land
und Volk, die seine Phantasie anziehen. Die Bedingung bleibt, daß die Dich¬
tung als solche und nicht durch ihr Bei- und Rechenwerk uns fessele.

Dies vorausgesetzt, ist eines einleuchtend: daß die Arbeitsteilung, die Beschrän¬
kung auf die Spezialität, wie sie aus dem Gebiete der Wissenschaft herrscht, in ge¬
sunden Literaturzuständen niemals auf die Dichtung übertragen werden kann.
Wohl soll der Dichter die Grenzen seiner Kraft kennen und sich innerhalb derselben
halten. Aber zwischen dieser Selbsterkenntnis und der Ausbeutung des Gebiets,
aus welchem der zufällige erste Erfolg errungen worden ist, zwischen der klaren
Erkenntnis der eignen Schranken und der eintönigen Wiederholung derselben
Motive, Gestalten und szenischen Wirkungen ist ein gewaltiger Unterschied. Und
wie begrenzt eines Dichters Vorstellungskraft immer sei, so eingeengt kann
sie nicht sein, daß sie gezwungen wäre, nur in einer Zeit, einer Geschichtsperiode
zu verharren, nur in ihr Leben zu erkennen und aus ihr Leben zu schöpfen.
Die poetische Naivität und die poetische Unmittelbarkeit verlangen ganz sicher


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[0024] Romane aus der Völkerwanderung, Übermittlung der Resultate gewisser wissenschaftlichen Forschungen an ein verehr¬ liches Publikum in erster Linie steht. Je sernerliegende Zeiten und Zustände der archäologische Roman behandelt und, wie sich seine Leser schmeicheln, „lebendig" vorführt, umso stärkern Reiz übt er aus, und umso geringfügiger werden die Ansprüche an feinen poetischen Gehalt. Von dem archäologischen Roman gilt in erster Linie, was Gervinus grollend am historischen Roman überhaupt aus¬ gesetzt hat: daß er den Geschichtssinn nicht nähre und deu Kunstsinn zerstöre, daß er in seiner Weise so gut wie das schlechte Ausstattungsdrama den Sinn der Leser vom Kern und Wesen der Dinge auf leidige Äußerlichkeiten ablenke, daß er ein reines Urteil über die poetische Kraft eines Schriftstellers, über die Fähigkeit, Welt und Leben, Handlungen und Charaktere darzustellen, nur in seltenen Fällen gestatte. Das deutsche Publikum, dem von jeher alle akademisch gestempelten Redensarten und alle Behauptungen, die auch nur den Anschein wissenschaftlichen Ernstes tragen, gewaltig imponirt haben, nimmt ohne weiteres ans Treu und Glauben an, daß der historische und nun vollends der archäo¬ logische Roman, welcher ja ungewöhnliche und nicht alltäglich zu treffende Kennt¬ nisse voraussetzt, höher stünden als die „Alltagsgeschichte." Nun ist im Gegen¬ teil nichts gewisser, als daß sich in der seelisch tiefen, sinnlich frischen und poetisch neuen Verlebendigung einer Alltagsgeschichte, die eben keine sein darf, die echte Dichternatur treuer und reiner bewähren kann als in der Dichtung mit histo¬ rischem Hintergrund. Doch ist nicht die Rede davon, den deutschen Dichtern das Recht abzusprechen, ihre Stoffe beliebig zu wählen. An sich ist keine Zeit zu verwerfen und kein Roman, keine Erzählung schon darum archäologisch zu schelten, weil sie in entlegenen Zeiten und weiten Fernen spielt. Ist der Dichter gewiß, daß er auf dem fremdartigen Hintergründe ganze, volle Gestalten geben kann und eine Handlung, die uns poetisch ergreift und unmittelbare, nicht reflek- tirte Teilnahme weckt, so wähle er getrost jede historische Periode, jedes Land und Volk, die seine Phantasie anziehen. Die Bedingung bleibt, daß die Dich¬ tung als solche und nicht durch ihr Bei- und Rechenwerk uns fessele. Dies vorausgesetzt, ist eines einleuchtend: daß die Arbeitsteilung, die Beschrän¬ kung auf die Spezialität, wie sie aus dem Gebiete der Wissenschaft herrscht, in ge¬ sunden Literaturzuständen niemals auf die Dichtung übertragen werden kann. Wohl soll der Dichter die Grenzen seiner Kraft kennen und sich innerhalb derselben halten. Aber zwischen dieser Selbsterkenntnis und der Ausbeutung des Gebiets, aus welchem der zufällige erste Erfolg errungen worden ist, zwischen der klaren Erkenntnis der eignen Schranken und der eintönigen Wiederholung derselben Motive, Gestalten und szenischen Wirkungen ist ein gewaltiger Unterschied. Und wie begrenzt eines Dichters Vorstellungskraft immer sei, so eingeengt kann sie nicht sein, daß sie gezwungen wäre, nur in einer Zeit, einer Geschichtsperiode zu verharren, nur in ihr Leben zu erkennen und aus ihr Leben zu schöpfen. Die poetische Naivität und die poetische Unmittelbarkeit verlangen ganz sicher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/24>, abgerufen am 26.05.2024.