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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

ein Abstecher auf einer Erholungsreise, bei dem man vielleicht einer Einladung
folgte, welche eine Artigkeit gegen den in der Nähe befindlichen einflußreichen
Staatsmann sein sollte, und deren Ablehnung wie eine Demonstration gegen
eine Macht ausgesehen haben würde, mit der England gegenwärtig gute Be¬
ziehungen unterhält.




Gedanken über Goethe.
von Victor Hehn.
1.. Naturformen des Menschenlebens.

erselbe Dichter, der vor allem berufen schien, in lyrischem Gesänge
den Kämpfen des Bewußtseins und Einzeldaseins Ausdruck zu
geben, derselbe zeigt uns auch in idealen Umrissen die beharrende
Naturgestalt unsers Geschlechtes, die substantiellen Lebensformen,
in deren Schoße das Subjekt uoch unerschlossen ruht. Diese Formen
sind einfach und unmittelbar, ebenso heiter als ernst, weder komisch noch tragisch;
sie verbinden das fernste Altertum mit der nächsten Gegenwart, ja sie sind der
höhern Tierwelt mit der Menschenwelt gemeinsam. Alles Besondre, so und auf
diesem Grunde betrachtet, geht leicht und ohne Hemmung in das Allgemeine
auf, es wird von diesem immer wieder zurückgezogen; die Forderungen der Sitte
und geselligen Ordnung erscheinen nur als natürliche Lebensprozesfe; ihre Herr¬
schaft ist nicht eingesetzt, sie wird nicht empfunden, sie umfängt alles so ruhig,
als könnte es nicht anders sein, und ihr entgegenzustreben wäre sinnlos. Ge¬
burt und Tod, die Lebensalter und ihre Eigenheiten, der Ahnherr mit spär¬
lichem, bleichem Haar und das zu seinen Füßen spielende Kind, die aus der
Familie werdende Familie, der Zug der Geschlechter zu einander, Vater und
Mutter, der Jüngling und das Mädchen, Werbung und die sich knüpfende Ehe,
die Flamme des Herdes und der steingefaßte Brunnen, die Urbeschäftigung auf
der Weide und dem Acker, auch mit Spindel und Nadel, die begleitenden Tiere,
Rind und Schaf, Hund und Roß, Ruder und Schaufel und Pflug, auf der
Wiese die Sense, im Walde die Axt, das Netz am Ufer, Arbeit und Muße,
Gesang und Tanz, Zorn und Streit und Begier, Warnung und weiser Rat,
wurzelnd in Sitte und Stammesgefühl, Weihgeschenk und Spende, Mut und
List der Helden, Thaten der Vorfahren, Sagen und alte Sprüche -- alles dies


Gedanken über Goethe.

ein Abstecher auf einer Erholungsreise, bei dem man vielleicht einer Einladung
folgte, welche eine Artigkeit gegen den in der Nähe befindlichen einflußreichen
Staatsmann sein sollte, und deren Ablehnung wie eine Demonstration gegen
eine Macht ausgesehen haben würde, mit der England gegenwärtig gute Be¬
ziehungen unterhält.




Gedanken über Goethe.
von Victor Hehn.
1.. Naturformen des Menschenlebens.

erselbe Dichter, der vor allem berufen schien, in lyrischem Gesänge
den Kämpfen des Bewußtseins und Einzeldaseins Ausdruck zu
geben, derselbe zeigt uns auch in idealen Umrissen die beharrende
Naturgestalt unsers Geschlechtes, die substantiellen Lebensformen,
in deren Schoße das Subjekt uoch unerschlossen ruht. Diese Formen
sind einfach und unmittelbar, ebenso heiter als ernst, weder komisch noch tragisch;
sie verbinden das fernste Altertum mit der nächsten Gegenwart, ja sie sind der
höhern Tierwelt mit der Menschenwelt gemeinsam. Alles Besondre, so und auf
diesem Grunde betrachtet, geht leicht und ohne Hemmung in das Allgemeine
auf, es wird von diesem immer wieder zurückgezogen; die Forderungen der Sitte
und geselligen Ordnung erscheinen nur als natürliche Lebensprozesfe; ihre Herr¬
schaft ist nicht eingesetzt, sie wird nicht empfunden, sie umfängt alles so ruhig,
als könnte es nicht anders sein, und ihr entgegenzustreben wäre sinnlos. Ge¬
burt und Tod, die Lebensalter und ihre Eigenheiten, der Ahnherr mit spär¬
lichem, bleichem Haar und das zu seinen Füßen spielende Kind, die aus der
Familie werdende Familie, der Zug der Geschlechter zu einander, Vater und
Mutter, der Jüngling und das Mädchen, Werbung und die sich knüpfende Ehe,
die Flamme des Herdes und der steingefaßte Brunnen, die Urbeschäftigung auf
der Weide und dem Acker, auch mit Spindel und Nadel, die begleitenden Tiere,
Rind und Schaf, Hund und Roß, Ruder und Schaufel und Pflug, auf der
Wiese die Sense, im Walde die Axt, das Netz am Ufer, Arbeit und Muße,
Gesang und Tanz, Zorn und Streit und Begier, Warnung und weiser Rat,
wurzelnd in Sitte und Stammesgefühl, Weihgeschenk und Spende, Mut und
List der Helden, Thaten der Vorfahren, Sagen und alte Sprüche — alles dies


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[0016] Gedanken über Goethe. ein Abstecher auf einer Erholungsreise, bei dem man vielleicht einer Einladung folgte, welche eine Artigkeit gegen den in der Nähe befindlichen einflußreichen Staatsmann sein sollte, und deren Ablehnung wie eine Demonstration gegen eine Macht ausgesehen haben würde, mit der England gegenwärtig gute Be¬ ziehungen unterhält. Gedanken über Goethe. von Victor Hehn. 1.. Naturformen des Menschenlebens. erselbe Dichter, der vor allem berufen schien, in lyrischem Gesänge den Kämpfen des Bewußtseins und Einzeldaseins Ausdruck zu geben, derselbe zeigt uns auch in idealen Umrissen die beharrende Naturgestalt unsers Geschlechtes, die substantiellen Lebensformen, in deren Schoße das Subjekt uoch unerschlossen ruht. Diese Formen sind einfach und unmittelbar, ebenso heiter als ernst, weder komisch noch tragisch; sie verbinden das fernste Altertum mit der nächsten Gegenwart, ja sie sind der höhern Tierwelt mit der Menschenwelt gemeinsam. Alles Besondre, so und auf diesem Grunde betrachtet, geht leicht und ohne Hemmung in das Allgemeine auf, es wird von diesem immer wieder zurückgezogen; die Forderungen der Sitte und geselligen Ordnung erscheinen nur als natürliche Lebensprozesfe; ihre Herr¬ schaft ist nicht eingesetzt, sie wird nicht empfunden, sie umfängt alles so ruhig, als könnte es nicht anders sein, und ihr entgegenzustreben wäre sinnlos. Ge¬ burt und Tod, die Lebensalter und ihre Eigenheiten, der Ahnherr mit spär¬ lichem, bleichem Haar und das zu seinen Füßen spielende Kind, die aus der Familie werdende Familie, der Zug der Geschlechter zu einander, Vater und Mutter, der Jüngling und das Mädchen, Werbung und die sich knüpfende Ehe, die Flamme des Herdes und der steingefaßte Brunnen, die Urbeschäftigung auf der Weide und dem Acker, auch mit Spindel und Nadel, die begleitenden Tiere, Rind und Schaf, Hund und Roß, Ruder und Schaufel und Pflug, auf der Wiese die Sense, im Walde die Axt, das Netz am Ufer, Arbeit und Muße, Gesang und Tanz, Zorn und Streit und Begier, Warnung und weiser Rat, wurzelnd in Sitte und Stammesgefühl, Weihgeschenk und Spende, Mut und List der Helden, Thaten der Vorfahren, Sagen und alte Sprüche — alles dies

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_154164/16>, abgerufen am 03.05.2024.