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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal.

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Literatur.

Darja. Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 2 Bände. Leipzig, Fr. Will,.
Grunow, 1884.

Man hat mit Recht in letzter Zeit darauf hingewiesen, daß das allgemeine
Niveau der Bildung, auf dem sich im Durchschnitt der moderne Roman bewegt,
ein bedeutend höheres ist, als in früheren Dezennien. Unsre Romandichter streben
heutzutage, sich in engere Beziehungen zu den Fortschritten der Wissenschaft zu
stellen, sie begnügen sich uicht damit, Material bloß für die unterhaltungsbedürftige,
zerstreuungssüchtige Menge der Leihbibliothekenabonnenten zu schaffen und diesen
unersättlichen Rachen einer beschäftigungslosen Phantasie wahllos neu zu füttern,
sondern es geht wirklich ein frischer Bildungstrieb, ein großer, idealer Zug nach
Darstellung des höchsten Lebens der Nation durch diese Literatur. Allerdings zeigt
sie auch ihre Schattenseiten. Der Bildungstrieb wird von vielen mit dem Wissens¬
trieb verwechselt, und in vielen historischen Romanen macht sich trockene Didaktik
breit. Die höhere Achtung vor dem Leser führt im Zusammenhange mit dem
objektiven Geiste des allgemeinen Strebens nach strenger "Wissenschaftlichkeit" zu
einer größern Sachlichkeit in der Darstellung: Objektivität ist die Parole, der
Autor darf nur die Handlung sprechen lassen, und die psychologisch genaue Ent¬
wicklung, die minutiöse Motivirung nehmen den Platz früherer subjektiver Be¬
trachtungen und kühner Phantastik ein. Aus der gleichen Wurzel entspringen die
Vorzüge und Fehler des modernen Romanes, denn auch die allznstrenge Gewissen¬
haftigkeit in der Führung der Handlung erhält ein trocken lehrhaftes Gepräge;
hat der Autor nicht den Mut, die Psychologie hie und da (scheinbar) zu vergessen,
so unterbindet er die freie Entfaltung der Phantasie, aus deren holdem Spiel
allein jener selige Genuß entspringt, der uns die süße Märchenzeit der Jugend
als ewig suchenswcrtes Paradies erscheinen läßt. Wohl freut es uns, ein Bild
des Lebens vom hohen Standpunkte gesättigten Wissens vor uns entfaltet zu sehen,
aber sollen wir dies Bild ganz genießen, so darf keine Arbeit damit verbunden
sein, das Spiel darf nicht gestört werden.

Zu diesen Reflexionen regte uns durch die Wirkung des Kontrastes der neueste
Roman der liebenswürdigen, anmutreichen Muse Robert Waldmüllers an. Wald¬
müller vereinigt die Vorzüge, welche wir hier als den modernen Roman aus-
zeichnend anführten, ohne in die Fehler zu verfallen, die wir gleichzeitig gerügt
haben. Er schildert das Leben und die Konflikte eines Mädchens, welches in
Männerkleidern die Welt als Maler durchwandert, durch die Liebe festgehalten
aber dazu kommt, sein Incognito aufzugeben, alle die fatalen Folgen, welche das
immerhin kühne und abenteuerliche Unternehme" nach sich zieht, schmerzlich durch¬
kosten muß, bis es in den Besitz desjenigen Mannes kommt, der ihm das Jncognito
fortzuführen unmöglich machte. Und charakteristisch für den Autor ist es, daß er
sich in der ganzen Literatur man kann sagen Europas nach allen Berichten
umsieht, die von dem Treiben nach Männerart lebender Mädchen und Frauen
etwa vorhanden sind. In den Text des Romanes selbst verflicht er -- mit oft
künstlerischen Tendenzen und Effekten -- Anspielungen dieser Art und in einem


Literatur.

Darja. Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 2 Bände. Leipzig, Fr. Will,.
Grunow, 1884.

Man hat mit Recht in letzter Zeit darauf hingewiesen, daß das allgemeine
Niveau der Bildung, auf dem sich im Durchschnitt der moderne Roman bewegt,
ein bedeutend höheres ist, als in früheren Dezennien. Unsre Romandichter streben
heutzutage, sich in engere Beziehungen zu den Fortschritten der Wissenschaft zu
stellen, sie begnügen sich uicht damit, Material bloß für die unterhaltungsbedürftige,
zerstreuungssüchtige Menge der Leihbibliothekenabonnenten zu schaffen und diesen
unersättlichen Rachen einer beschäftigungslosen Phantasie wahllos neu zu füttern,
sondern es geht wirklich ein frischer Bildungstrieb, ein großer, idealer Zug nach
Darstellung des höchsten Lebens der Nation durch diese Literatur. Allerdings zeigt
sie auch ihre Schattenseiten. Der Bildungstrieb wird von vielen mit dem Wissens¬
trieb verwechselt, und in vielen historischen Romanen macht sich trockene Didaktik
breit. Die höhere Achtung vor dem Leser führt im Zusammenhange mit dem
objektiven Geiste des allgemeinen Strebens nach strenger „Wissenschaftlichkeit" zu
einer größern Sachlichkeit in der Darstellung: Objektivität ist die Parole, der
Autor darf nur die Handlung sprechen lassen, und die psychologisch genaue Ent¬
wicklung, die minutiöse Motivirung nehmen den Platz früherer subjektiver Be¬
trachtungen und kühner Phantastik ein. Aus der gleichen Wurzel entspringen die
Vorzüge und Fehler des modernen Romanes, denn auch die allznstrenge Gewissen¬
haftigkeit in der Führung der Handlung erhält ein trocken lehrhaftes Gepräge;
hat der Autor nicht den Mut, die Psychologie hie und da (scheinbar) zu vergessen,
so unterbindet er die freie Entfaltung der Phantasie, aus deren holdem Spiel
allein jener selige Genuß entspringt, der uns die süße Märchenzeit der Jugend
als ewig suchenswcrtes Paradies erscheinen läßt. Wohl freut es uns, ein Bild
des Lebens vom hohen Standpunkte gesättigten Wissens vor uns entfaltet zu sehen,
aber sollen wir dies Bild ganz genießen, so darf keine Arbeit damit verbunden
sein, das Spiel darf nicht gestört werden.

Zu diesen Reflexionen regte uns durch die Wirkung des Kontrastes der neueste
Roman der liebenswürdigen, anmutreichen Muse Robert Waldmüllers an. Wald¬
müller vereinigt die Vorzüge, welche wir hier als den modernen Roman aus-
zeichnend anführten, ohne in die Fehler zu verfallen, die wir gleichzeitig gerügt
haben. Er schildert das Leben und die Konflikte eines Mädchens, welches in
Männerkleidern die Welt als Maler durchwandert, durch die Liebe festgehalten
aber dazu kommt, sein Incognito aufzugeben, alle die fatalen Folgen, welche das
immerhin kühne und abenteuerliche Unternehme» nach sich zieht, schmerzlich durch¬
kosten muß, bis es in den Besitz desjenigen Mannes kommt, der ihm das Jncognito
fortzuführen unmöglich machte. Und charakteristisch für den Autor ist es, daß er
sich in der ganzen Literatur man kann sagen Europas nach allen Berichten
umsieht, die von dem Treiben nach Männerart lebender Mädchen und Frauen
etwa vorhanden sind. In den Text des Romanes selbst verflicht er — mit oft
künstlerischen Tendenzen und Effekten — Anspielungen dieser Art und in einem


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[0254] Literatur. Darja. Roman von Robert Waldmüller (Ed. Duboc). 2 Bände. Leipzig, Fr. Will,. Grunow, 1884. Man hat mit Recht in letzter Zeit darauf hingewiesen, daß das allgemeine Niveau der Bildung, auf dem sich im Durchschnitt der moderne Roman bewegt, ein bedeutend höheres ist, als in früheren Dezennien. Unsre Romandichter streben heutzutage, sich in engere Beziehungen zu den Fortschritten der Wissenschaft zu stellen, sie begnügen sich uicht damit, Material bloß für die unterhaltungsbedürftige, zerstreuungssüchtige Menge der Leihbibliothekenabonnenten zu schaffen und diesen unersättlichen Rachen einer beschäftigungslosen Phantasie wahllos neu zu füttern, sondern es geht wirklich ein frischer Bildungstrieb, ein großer, idealer Zug nach Darstellung des höchsten Lebens der Nation durch diese Literatur. Allerdings zeigt sie auch ihre Schattenseiten. Der Bildungstrieb wird von vielen mit dem Wissens¬ trieb verwechselt, und in vielen historischen Romanen macht sich trockene Didaktik breit. Die höhere Achtung vor dem Leser führt im Zusammenhange mit dem objektiven Geiste des allgemeinen Strebens nach strenger „Wissenschaftlichkeit" zu einer größern Sachlichkeit in der Darstellung: Objektivität ist die Parole, der Autor darf nur die Handlung sprechen lassen, und die psychologisch genaue Ent¬ wicklung, die minutiöse Motivirung nehmen den Platz früherer subjektiver Be¬ trachtungen und kühner Phantastik ein. Aus der gleichen Wurzel entspringen die Vorzüge und Fehler des modernen Romanes, denn auch die allznstrenge Gewissen¬ haftigkeit in der Führung der Handlung erhält ein trocken lehrhaftes Gepräge; hat der Autor nicht den Mut, die Psychologie hie und da (scheinbar) zu vergessen, so unterbindet er die freie Entfaltung der Phantasie, aus deren holdem Spiel allein jener selige Genuß entspringt, der uns die süße Märchenzeit der Jugend als ewig suchenswcrtes Paradies erscheinen läßt. Wohl freut es uns, ein Bild des Lebens vom hohen Standpunkte gesättigten Wissens vor uns entfaltet zu sehen, aber sollen wir dies Bild ganz genießen, so darf keine Arbeit damit verbunden sein, das Spiel darf nicht gestört werden. Zu diesen Reflexionen regte uns durch die Wirkung des Kontrastes der neueste Roman der liebenswürdigen, anmutreichen Muse Robert Waldmüllers an. Wald¬ müller vereinigt die Vorzüge, welche wir hier als den modernen Roman aus- zeichnend anführten, ohne in die Fehler zu verfallen, die wir gleichzeitig gerügt haben. Er schildert das Leben und die Konflikte eines Mädchens, welches in Männerkleidern die Welt als Maler durchwandert, durch die Liebe festgehalten aber dazu kommt, sein Incognito aufzugeben, alle die fatalen Folgen, welche das immerhin kühne und abenteuerliche Unternehme» nach sich zieht, schmerzlich durch¬ kosten muß, bis es in den Besitz desjenigen Mannes kommt, der ihm das Jncognito fortzuführen unmöglich machte. Und charakteristisch für den Autor ist es, daß er sich in der ganzen Literatur man kann sagen Europas nach allen Berichten umsieht, die von dem Treiben nach Männerart lebender Mädchen und Frauen etwa vorhanden sind. In den Text des Romanes selbst verflicht er — mit oft künstlerischen Tendenzen und Effekten — Anspielungen dieser Art und in einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156924/254>, abgerufen am 07.05.2024.