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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal.

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Zur Grundsteinlegung des Reichstagsgebäudes.

Boden beinahe völlig ignorirt und alles in allem mit denjenigen Lebcnselcmenten
für die poetische Darstellung ausreicht, die in der Sturm- und Drangperiode
die vorherrschenden waren.




Zur Grundsteinlegung des Reichstagsgebäudes.

cum diese Zeilen vor die Augen der Leser gelangen, wird der
große Staatsakt der Grundsteinlegung des neuen Reichstags-
gcbäudes nicht nur bereits erfolgt, sondern auch in den Tages¬
blättern zu den verschiedensten Leitartikelmotiven verarbeitet sein.
Nur wenige aber -- davon bin ich überzeugt -- werden sich dieses
neuen Symbols des einigen und geachteten Vaterlandes wahrhaft freuen. Wenn
der Deutsche fröhlich ist - ich habe dies manchesmal bei Landpartien unter
dem Volke beobachtet -- so singt er elegische Lieder. "Ich weiß nicht, was soll
es bedeuten, daß ich so traurig bin," dies scheint sogar -- wenigstens in der
Hauptstadt des deutschen Reiches -- das Lieblingslied zu sein, mit dem der
fröhliche Tag einer Landpartie geschlossen wird. Eine höchst merkwürdige
Natur, dieser Deutsche! Hat jahrhundertelanges Gedrücktsein und der Trübsinn
eines unbefriedigten Völkerdascins so schwere Spuren im Gemüte hinterlassen,
daß eine allgemeine und reine Freude niemals aufkommen kann? Ist die Zer¬
klüftung der Stämme, die Pflege der besondern Eigentümlichkeiten so nachhaltig,
daß der Fraktionsgcist den Patriotismus zu Boden schmettert? Der Fortschritt
knüpft um die Grundsteinlegung den Wunsch, daß die Volkssouveränetät in das
Gebäude einziehe und der Herrscher -- für den eine ostensible Loyalität zur
Schau getragen wird -- an dem Gängelbande der zeitweiligen Parlaments-
mchrheit geleitet werde. Die Sezession stimmt nicht ganz für die Verwirklichung
dieses Programms, wünscht aber doch, daß es verwirklicht werde, und daß sie
alsdann bei der an die Sieger zu verteilenden Beute auch den eignen Anteil
erhalte. Die dritte Schattirung der Liberalismus -- Demokratie und Fortschritt
sind Geschwister und wir brauchen daher erstere nicht gesondert zu betrachten --,
die Nationalliberalen, mögen daran denken, wie ganz anders sie dieses Fest
feiern würden, wenn Doktrinarismus und Eitelkeit ihre Wege von denen des
großen Staatsmannes nicht getrennt hätten. Mit größerer Zuversicht werden
die konservativen Parteien in die Zukunft des neuen Reichstagsbaues blicken,
sie sind dem Rufe des Reichskanzlers zur Wahrung der wirtschaftliche" Interessen
williger gefolgt, sie haben es erfahren, wie gerade durch diese letztern sich in


Zur Grundsteinlegung des Reichstagsgebäudes.

Boden beinahe völlig ignorirt und alles in allem mit denjenigen Lebcnselcmenten
für die poetische Darstellung ausreicht, die in der Sturm- und Drangperiode
die vorherrschenden waren.




Zur Grundsteinlegung des Reichstagsgebäudes.

cum diese Zeilen vor die Augen der Leser gelangen, wird der
große Staatsakt der Grundsteinlegung des neuen Reichstags-
gcbäudes nicht nur bereits erfolgt, sondern auch in den Tages¬
blättern zu den verschiedensten Leitartikelmotiven verarbeitet sein.
Nur wenige aber — davon bin ich überzeugt — werden sich dieses
neuen Symbols des einigen und geachteten Vaterlandes wahrhaft freuen. Wenn
der Deutsche fröhlich ist - ich habe dies manchesmal bei Landpartien unter
dem Volke beobachtet — so singt er elegische Lieder. „Ich weiß nicht, was soll
es bedeuten, daß ich so traurig bin," dies scheint sogar — wenigstens in der
Hauptstadt des deutschen Reiches — das Lieblingslied zu sein, mit dem der
fröhliche Tag einer Landpartie geschlossen wird. Eine höchst merkwürdige
Natur, dieser Deutsche! Hat jahrhundertelanges Gedrücktsein und der Trübsinn
eines unbefriedigten Völkerdascins so schwere Spuren im Gemüte hinterlassen,
daß eine allgemeine und reine Freude niemals aufkommen kann? Ist die Zer¬
klüftung der Stämme, die Pflege der besondern Eigentümlichkeiten so nachhaltig,
daß der Fraktionsgcist den Patriotismus zu Boden schmettert? Der Fortschritt
knüpft um die Grundsteinlegung den Wunsch, daß die Volkssouveränetät in das
Gebäude einziehe und der Herrscher — für den eine ostensible Loyalität zur
Schau getragen wird — an dem Gängelbande der zeitweiligen Parlaments-
mchrheit geleitet werde. Die Sezession stimmt nicht ganz für die Verwirklichung
dieses Programms, wünscht aber doch, daß es verwirklicht werde, und daß sie
alsdann bei der an die Sieger zu verteilenden Beute auch den eignen Anteil
erhalte. Die dritte Schattirung der Liberalismus — Demokratie und Fortschritt
sind Geschwister und wir brauchen daher erstere nicht gesondert zu betrachten —,
die Nationalliberalen, mögen daran denken, wie ganz anders sie dieses Fest
feiern würden, wenn Doktrinarismus und Eitelkeit ihre Wege von denen des
großen Staatsmannes nicht getrennt hätten. Mit größerer Zuversicht werden
die konservativen Parteien in die Zukunft des neuen Reichstagsbaues blicken,
sie sind dem Rufe des Reichskanzlers zur Wahrung der wirtschaftliche» Interessen
williger gefolgt, sie haben es erfahren, wie gerade durch diese letztern sich in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158166/611>, abgerufen am 03.05.2024.