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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Notizen.

Ein neues philosophisches System. In den exakten Wissenschaften
muß es doch klipp und klar werden, sagt der Verfasser eines nen er¬
schienenen philosophischen Systems") und giebt damit einem wohlberechtigten Ge¬
fühle Ausdruck: man kann allerdings die bestimmte Erwartung nnssprechen, daß
der menschliche Verstand eine zusammenhängende Erklärung für alle Natur¬
erscheinungen finde" wird. Er wendet sich dann anch mit Energie gegen jeden
Wunderglauben, worunter er aber nicht den an die biblischen Wunder versteht,
sondern vielmehr den Glauben an mancherlei Hypothesen der Physiker über Fern¬
wirkung, Massenanziehung, Molekularbewegung, welche noch nicht vollständig klar
bewiesen sind, und auch hierin müssen wir ihm beistimmen, denn die Tciuschnngs-
fähigkeit der Meuscheu ist sehr groß, und man ist im allgemeinen nur zu sehr
geneigt, jede kühne und gewagte Hypothese, die ein angesehener und berühmter
Mann aufgestellt hat, für die reine Wahrheit zu halten, bevor man ihre Ueber¬
einstimmung mit den Prinzipien der Erfahrung selbst geprüft hat. Aber etwas
andres ist es, wenn der Verfasser nun selbst die einzig richtige Hypothese aufzu¬
stellen versucht, welche nach seiner Meinung geeignet ist, den Verstand vollständig
in der Erklärung aller Naturerscheinungen aus einem Prinzip zu befriedige".

Bei einem so großartigen Unternehmen ist es durchaus notwendig, zuerst auf
den Unterschied von dogmatischer und kritischer Philosophie zurückzukommen. Dog¬
matische Hypothesen aufzustellen, die ohne Widerspruch mit allen Thatsachen der Er¬
fahrung gedacht werden können, ist nicht schwer, sondern vielmehr in unbeschränktem
Maße möglich. Die einfachste Hypothese, die in diesem Sinne gemacht wordeu ist,
ist die, daß man die letzte Ursache aller Bewegung und alles Geschehenen Gott
genaunt hat. Eine andre Hypothese war die, daß man diese letzte Ursache Be¬
wegung nannte, und die Physiker, die diese Annahme machten, schlössen meistens,
wenn sie nicht zufällig auch noch kühne philosophische Dilettanten waren, die geistigen
Thätigkeiten von dem Gebiete aus, welches durch diese Bewegungen der Materie
erklärt werden sollte. Darüber hinaus gingen diejenigen, die für Geist und Materie
durchaus eine und dieselbe Quelle des Ursprunges haben und begreifen wollten,
und zu ihnen gehört unser Verfasser, indem er uns den leicht beweglichen Elek-
trizitätsstvff empfiehlt, um alle Erscheinungen der sichtbaren äußern sowohl wie der
innern geistigen Welt zu erklären. Er nennt ihn "die Kraft, die zum Ganzen
eint die Teile, das Element, welches die innersten mit den äußerste" Formen ver¬
knüpft, die Ursache der Triebe, Begierden, Emanationen, Effnlgurationen, das Binde¬
glied zwischen Idee und Erscheinung und zwischen den Sinneseindrücken und der
Empfindung und dem Bewußtsein." Neu und originell ist bei ihm die Art und
Weise, wie er den Elektrizitätsstoff alle Bewegungen hervorrufen läßt, Wie die Be-



*) Der Aromansbau in den chemischen Verbindungen und sein Einfluß auf die
Erscheinungen. Bon L. Mann. Berlin, Friedr. Luclhardt, 1884.
Notizen.

Ein neues philosophisches System. In den exakten Wissenschaften
muß es doch klipp und klar werden, sagt der Verfasser eines nen er¬
schienenen philosophischen Systems") und giebt damit einem wohlberechtigten Ge¬
fühle Ausdruck: man kann allerdings die bestimmte Erwartung nnssprechen, daß
der menschliche Verstand eine zusammenhängende Erklärung für alle Natur¬
erscheinungen finde» wird. Er wendet sich dann anch mit Energie gegen jeden
Wunderglauben, worunter er aber nicht den an die biblischen Wunder versteht,
sondern vielmehr den Glauben an mancherlei Hypothesen der Physiker über Fern¬
wirkung, Massenanziehung, Molekularbewegung, welche noch nicht vollständig klar
bewiesen sind, und auch hierin müssen wir ihm beistimmen, denn die Tciuschnngs-
fähigkeit der Meuscheu ist sehr groß, und man ist im allgemeinen nur zu sehr
geneigt, jede kühne und gewagte Hypothese, die ein angesehener und berühmter
Mann aufgestellt hat, für die reine Wahrheit zu halten, bevor man ihre Ueber¬
einstimmung mit den Prinzipien der Erfahrung selbst geprüft hat. Aber etwas
andres ist es, wenn der Verfasser nun selbst die einzig richtige Hypothese aufzu¬
stellen versucht, welche nach seiner Meinung geeignet ist, den Verstand vollständig
in der Erklärung aller Naturerscheinungen aus einem Prinzip zu befriedige«.

Bei einem so großartigen Unternehmen ist es durchaus notwendig, zuerst auf
den Unterschied von dogmatischer und kritischer Philosophie zurückzukommen. Dog¬
matische Hypothesen aufzustellen, die ohne Widerspruch mit allen Thatsachen der Er¬
fahrung gedacht werden können, ist nicht schwer, sondern vielmehr in unbeschränktem
Maße möglich. Die einfachste Hypothese, die in diesem Sinne gemacht wordeu ist,
ist die, daß man die letzte Ursache aller Bewegung und alles Geschehenen Gott
genaunt hat. Eine andre Hypothese war die, daß man diese letzte Ursache Be¬
wegung nannte, und die Physiker, die diese Annahme machten, schlössen meistens,
wenn sie nicht zufällig auch noch kühne philosophische Dilettanten waren, die geistigen
Thätigkeiten von dem Gebiete aus, welches durch diese Bewegungen der Materie
erklärt werden sollte. Darüber hinaus gingen diejenigen, die für Geist und Materie
durchaus eine und dieselbe Quelle des Ursprunges haben und begreifen wollten,
und zu ihnen gehört unser Verfasser, indem er uns den leicht beweglichen Elek-
trizitätsstvff empfiehlt, um alle Erscheinungen der sichtbaren äußern sowohl wie der
innern geistigen Welt zu erklären. Er nennt ihn „die Kraft, die zum Ganzen
eint die Teile, das Element, welches die innersten mit den äußerste» Formen ver¬
knüpft, die Ursache der Triebe, Begierden, Emanationen, Effnlgurationen, das Binde¬
glied zwischen Idee und Erscheinung und zwischen den Sinneseindrücken und der
Empfindung und dem Bewußtsein." Neu und originell ist bei ihm die Art und
Weise, wie er den Elektrizitätsstoff alle Bewegungen hervorrufen läßt, Wie die Be-



*) Der Aromansbau in den chemischen Verbindungen und sein Einfluß auf die
Erscheinungen. Bon L. Mann. Berlin, Friedr. Luclhardt, 1884.
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[0378] Notizen. Ein neues philosophisches System. In den exakten Wissenschaften muß es doch klipp und klar werden, sagt der Verfasser eines nen er¬ schienenen philosophischen Systems") und giebt damit einem wohlberechtigten Ge¬ fühle Ausdruck: man kann allerdings die bestimmte Erwartung nnssprechen, daß der menschliche Verstand eine zusammenhängende Erklärung für alle Natur¬ erscheinungen finde» wird. Er wendet sich dann anch mit Energie gegen jeden Wunderglauben, worunter er aber nicht den an die biblischen Wunder versteht, sondern vielmehr den Glauben an mancherlei Hypothesen der Physiker über Fern¬ wirkung, Massenanziehung, Molekularbewegung, welche noch nicht vollständig klar bewiesen sind, und auch hierin müssen wir ihm beistimmen, denn die Tciuschnngs- fähigkeit der Meuscheu ist sehr groß, und man ist im allgemeinen nur zu sehr geneigt, jede kühne und gewagte Hypothese, die ein angesehener und berühmter Mann aufgestellt hat, für die reine Wahrheit zu halten, bevor man ihre Ueber¬ einstimmung mit den Prinzipien der Erfahrung selbst geprüft hat. Aber etwas andres ist es, wenn der Verfasser nun selbst die einzig richtige Hypothese aufzu¬ stellen versucht, welche nach seiner Meinung geeignet ist, den Verstand vollständig in der Erklärung aller Naturerscheinungen aus einem Prinzip zu befriedige«. Bei einem so großartigen Unternehmen ist es durchaus notwendig, zuerst auf den Unterschied von dogmatischer und kritischer Philosophie zurückzukommen. Dog¬ matische Hypothesen aufzustellen, die ohne Widerspruch mit allen Thatsachen der Er¬ fahrung gedacht werden können, ist nicht schwer, sondern vielmehr in unbeschränktem Maße möglich. Die einfachste Hypothese, die in diesem Sinne gemacht wordeu ist, ist die, daß man die letzte Ursache aller Bewegung und alles Geschehenen Gott genaunt hat. Eine andre Hypothese war die, daß man diese letzte Ursache Be¬ wegung nannte, und die Physiker, die diese Annahme machten, schlössen meistens, wenn sie nicht zufällig auch noch kühne philosophische Dilettanten waren, die geistigen Thätigkeiten von dem Gebiete aus, welches durch diese Bewegungen der Materie erklärt werden sollte. Darüber hinaus gingen diejenigen, die für Geist und Materie durchaus eine und dieselbe Quelle des Ursprunges haben und begreifen wollten, und zu ihnen gehört unser Verfasser, indem er uns den leicht beweglichen Elek- trizitätsstvff empfiehlt, um alle Erscheinungen der sichtbaren äußern sowohl wie der innern geistigen Welt zu erklären. Er nennt ihn „die Kraft, die zum Ganzen eint die Teile, das Element, welches die innersten mit den äußerste» Formen ver¬ knüpft, die Ursache der Triebe, Begierden, Emanationen, Effnlgurationen, das Binde¬ glied zwischen Idee und Erscheinung und zwischen den Sinneseindrücken und der Empfindung und dem Bewußtsein." Neu und originell ist bei ihm die Art und Weise, wie er den Elektrizitätsstoff alle Bewegungen hervorrufen läßt, Wie die Be- *) Der Aromansbau in den chemischen Verbindungen und sein Einfluß auf die Erscheinungen. Bon L. Mann. Berlin, Friedr. Luclhardt, 1884.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/378>, abgerufen am 01.05.2024.