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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Aus den letzten Tagen des Frankfurter Parlaments.
(Schluß.)

und N. gab die Hoffnung auf einen friedlichen Verlauf jetzt
verloren. "Die Dinge entwickeln sich mit furchtbarer Schnellig¬
keit, schreibt er am 30. April. Die Ungarn haben die Österreicher
fast schon bis unter die Mauern vou Wien zurückgeworfen,*)
Vaiern will die Reichsverfassung nicht anerkennen, in Berlin
und Hannover löst man die Kammern auf, in Schleswig-Holstein fließt Blut
in Strömen und wahrscheinlich wieder durch Schuld einer treulosen Politik
vergeblich**); im Westen und Südwesten Deutschlands werden zahllose Volks¬
versammlungen gehalten, frißt der Grimm über Täuschungen und Ränke von
oben immer tiefer in die Herzen sich ein. Unter solchen Verhältnissen hat die
Nationalversammlung eine unendlich schwierige Stellung. Die größern Re¬
gierungen sind ihr feindlich, und umsomehr, je schwieriger, je gefährlicher es ist,
sie zu sprengen. Der Reichsverweser ist durch sein Verhältnis zu Österreich in
der peinlichsten Lage und kann nur noch mit Mühe bewogen werden, das von
der Nationalversammlung beschlossene zu genehmigen, und thut es zuweilen nur,
weil sonst das Reichsministerium abtreten und ihn allein lassen würde. Heinrich
von Gagern ist mürbe gemacht; man sieht es der edeln Gestalt an, daß ihre
.Kraft gebrochen ist. Und doch würde derselbe Mann noch jetzt imstande sein,
eine erschütternde Bewegung hervorzurufen, wenn er wollte! Zu einer solchen
kaun es aber auch ohne Gagern kommen. Ich kann nicht ohne die tiefste
Wehmut daran denken, daß Unverstand und böser Wille die Dinge auf einen
Punkt getrieben haben, wo ohne Wunderthaten die Abwendung eiuer neuen und
schlimmer" Revolution kaum denkbar ist. Wir stehen dicht vor der Entscheidung-
"Deutschland erwartet, daß jeder seine Schuldigkeit thue."***) Auf den Mitgliedern
der Nationalversammlung liegt es wie ein Alp; jeder Einzelne fühlt, welche
ungeheure Verantwortlichkeit unter den gegenwärtigen Verhältnissen er auf sich





5) Am 6. April siegten sie bei Gödollö, dann entsetzte Klapta das belagerte Kmnorn
und drängte Windischgrtttz bis an die Leitha zurück, am 14. April erklärte der ungarische
Reichstag tu Debreczin das Hans Lothringen fiir des Thrones verlustig und proklamirte die
ungarische Republik. Nur noch in Ofen, Temesvar und Amt wehte die schwarzgelbe Fahne.
**) Gemeine sind die Erstürmung der Dnppeler Schanzen am 13. April und die Schlacht
bei Kolding am 20. April.
^) Worte Vogts in der angeführten Rede.
Aus den letzten Tagen des Frankfurter Parlaments.
(Schluß.)

und N. gab die Hoffnung auf einen friedlichen Verlauf jetzt
verloren. „Die Dinge entwickeln sich mit furchtbarer Schnellig¬
keit, schreibt er am 30. April. Die Ungarn haben die Österreicher
fast schon bis unter die Mauern vou Wien zurückgeworfen,*)
Vaiern will die Reichsverfassung nicht anerkennen, in Berlin
und Hannover löst man die Kammern auf, in Schleswig-Holstein fließt Blut
in Strömen und wahrscheinlich wieder durch Schuld einer treulosen Politik
vergeblich**); im Westen und Südwesten Deutschlands werden zahllose Volks¬
versammlungen gehalten, frißt der Grimm über Täuschungen und Ränke von
oben immer tiefer in die Herzen sich ein. Unter solchen Verhältnissen hat die
Nationalversammlung eine unendlich schwierige Stellung. Die größern Re¬
gierungen sind ihr feindlich, und umsomehr, je schwieriger, je gefährlicher es ist,
sie zu sprengen. Der Reichsverweser ist durch sein Verhältnis zu Österreich in
der peinlichsten Lage und kann nur noch mit Mühe bewogen werden, das von
der Nationalversammlung beschlossene zu genehmigen, und thut es zuweilen nur,
weil sonst das Reichsministerium abtreten und ihn allein lassen würde. Heinrich
von Gagern ist mürbe gemacht; man sieht es der edeln Gestalt an, daß ihre
.Kraft gebrochen ist. Und doch würde derselbe Mann noch jetzt imstande sein,
eine erschütternde Bewegung hervorzurufen, wenn er wollte! Zu einer solchen
kaun es aber auch ohne Gagern kommen. Ich kann nicht ohne die tiefste
Wehmut daran denken, daß Unverstand und böser Wille die Dinge auf einen
Punkt getrieben haben, wo ohne Wunderthaten die Abwendung eiuer neuen und
schlimmer» Revolution kaum denkbar ist. Wir stehen dicht vor der Entscheidung-
„Deutschland erwartet, daß jeder seine Schuldigkeit thue."***) Auf den Mitgliedern
der Nationalversammlung liegt es wie ein Alp; jeder Einzelne fühlt, welche
ungeheure Verantwortlichkeit unter den gegenwärtigen Verhältnissen er auf sich





5) Am 6. April siegten sie bei Gödollö, dann entsetzte Klapta das belagerte Kmnorn
und drängte Windischgrtttz bis an die Leitha zurück, am 14. April erklärte der ungarische
Reichstag tu Debreczin das Hans Lothringen fiir des Thrones verlustig und proklamirte die
ungarische Republik. Nur noch in Ofen, Temesvar und Amt wehte die schwarzgelbe Fahne.
**) Gemeine sind die Erstürmung der Dnppeler Schanzen am 13. April und die Schlacht
bei Kolding am 20. April.
^) Worte Vogts in der angeführten Rede.
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[0297] Aus den letzten Tagen des Frankfurter Parlaments. (Schluß.) und N. gab die Hoffnung auf einen friedlichen Verlauf jetzt verloren. „Die Dinge entwickeln sich mit furchtbarer Schnellig¬ keit, schreibt er am 30. April. Die Ungarn haben die Österreicher fast schon bis unter die Mauern vou Wien zurückgeworfen,*) Vaiern will die Reichsverfassung nicht anerkennen, in Berlin und Hannover löst man die Kammern auf, in Schleswig-Holstein fließt Blut in Strömen und wahrscheinlich wieder durch Schuld einer treulosen Politik vergeblich**); im Westen und Südwesten Deutschlands werden zahllose Volks¬ versammlungen gehalten, frißt der Grimm über Täuschungen und Ränke von oben immer tiefer in die Herzen sich ein. Unter solchen Verhältnissen hat die Nationalversammlung eine unendlich schwierige Stellung. Die größern Re¬ gierungen sind ihr feindlich, und umsomehr, je schwieriger, je gefährlicher es ist, sie zu sprengen. Der Reichsverweser ist durch sein Verhältnis zu Österreich in der peinlichsten Lage und kann nur noch mit Mühe bewogen werden, das von der Nationalversammlung beschlossene zu genehmigen, und thut es zuweilen nur, weil sonst das Reichsministerium abtreten und ihn allein lassen würde. Heinrich von Gagern ist mürbe gemacht; man sieht es der edeln Gestalt an, daß ihre .Kraft gebrochen ist. Und doch würde derselbe Mann noch jetzt imstande sein, eine erschütternde Bewegung hervorzurufen, wenn er wollte! Zu einer solchen kaun es aber auch ohne Gagern kommen. Ich kann nicht ohne die tiefste Wehmut daran denken, daß Unverstand und böser Wille die Dinge auf einen Punkt getrieben haben, wo ohne Wunderthaten die Abwendung eiuer neuen und schlimmer» Revolution kaum denkbar ist. Wir stehen dicht vor der Entscheidung- „Deutschland erwartet, daß jeder seine Schuldigkeit thue."***) Auf den Mitgliedern der Nationalversammlung liegt es wie ein Alp; jeder Einzelne fühlt, welche ungeheure Verantwortlichkeit unter den gegenwärtigen Verhältnissen er auf sich 5) Am 6. April siegten sie bei Gödollö, dann entsetzte Klapta das belagerte Kmnorn und drängte Windischgrtttz bis an die Leitha zurück, am 14. April erklärte der ungarische Reichstag tu Debreczin das Hans Lothringen fiir des Thrones verlustig und proklamirte die ungarische Republik. Nur noch in Ofen, Temesvar und Amt wehte die schwarzgelbe Fahne. **) Gemeine sind die Erstürmung der Dnppeler Schanzen am 13. April und die Schlacht bei Kolding am 20. April. ^) Worte Vogts in der angeführten Rede.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/297>, abgerufen am 03.05.2024.