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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Beiträge zum Verständnis der mittelasiatischen Frage.
i.

ir haben vor einigen Wochen einen Rückblick auf die neueste Ge¬
staltung des Streites gethan, zu dem die Verschiedenheit der
Interessen Englands und Rußlands in Asien geführt hat, und
in der letzten Nummer den gegenwärtigen Stand der Dinge zu
beleuchten versucht. Es schien uns dabei, als ob der drohende
Zusammenstoß der beiden Mächte für jetzt noch vermieden werden könne, wir
durften aber nicht verschweigen, daß damit nur eine Vertagung erreicht werden
würde, und zwar, da die Gegner einander sehr nahe gerückt sind, wahrscheinlich
nur für kurze Zeit. Die Meinungsverschiedenheiten, die jetzt schon nach dem
Nordwesten Afghanistans hineinspielen, können in Einzelheiten vorläufig einer
Verständigung weichen. Sehr bald aber werden am Oxus neue auftauchen,
und wenn auch diese ausgeglichen werde:? sollten, so wird die Frage damit doch
nicht gelöst sein und immer wieder die Blicke der Welt auf sich lenken. So
wird eine weiter zurückreichende Überschau über die Hauptmomente in ihrer
Entwicklung notwendig, die auch andre asiatische Länder als Turkmcuien und
Afghanistan in den Kreis ihrer Betrachtung zieht und nach dem dort Geschehenen
die Gegenwart zu beurteilen und auf die Zukunft zu schließen versucht.

Die asiatische,, Pläne Napoleons des Ersten, die ans ein Bündnis mit
Tippn Sahib, dem Fürsten von Mysore, und eine Eroberung Indiens mit
dessen Beistand hinausliefen, und bei denen auch die Perser und die Afghane"
mit in Rechnung gezogen wurden, waren mißlungen und hatten nur zur Aus¬
dehnung und Befestigung der englischen Macht im Orient geführt. Frankreich
verlor hier den letzten Rest seines Einflusses, und Rußland und England standen
sich nun in diesen, Teile der Welt als einzige Nebenbuhler von Bedeutung
gegenüber. Alsbald begannen sich ihre Agenten, die meist unter dem Vorwande,
Handelsverbindungen anknüpfen zu wollen, reisten, in den Ländern der Grenz-
nachbcm, Indiens zu kreuzen und gegen einander Ränke zu spinnen. Einer
von den ersten russischen Emissären dieser Art war Mehdi Nafciel, der Sohn
eines Jude,, aus Kaschmir, der sich in Nußland niedergelassen hatte. Er kam
um das Jahr 1824 unter anderm mit Briefen, die von Graf Nesselrode unter¬
zeichnet waren, zum Nadschah von Ladak und zum Maharcidschcch von Lahore,
um diese Fürsten zu veranlassen, mit Kaiser Alexander in freundschaftliche Be¬
ziehungen zu treten und Gesandte nach Petersburg zu schicken. Derselbe Agent


Beiträge zum Verständnis der mittelasiatischen Frage.
i.

ir haben vor einigen Wochen einen Rückblick auf die neueste Ge¬
staltung des Streites gethan, zu dem die Verschiedenheit der
Interessen Englands und Rußlands in Asien geführt hat, und
in der letzten Nummer den gegenwärtigen Stand der Dinge zu
beleuchten versucht. Es schien uns dabei, als ob der drohende
Zusammenstoß der beiden Mächte für jetzt noch vermieden werden könne, wir
durften aber nicht verschweigen, daß damit nur eine Vertagung erreicht werden
würde, und zwar, da die Gegner einander sehr nahe gerückt sind, wahrscheinlich
nur für kurze Zeit. Die Meinungsverschiedenheiten, die jetzt schon nach dem
Nordwesten Afghanistans hineinspielen, können in Einzelheiten vorläufig einer
Verständigung weichen. Sehr bald aber werden am Oxus neue auftauchen,
und wenn auch diese ausgeglichen werde:? sollten, so wird die Frage damit doch
nicht gelöst sein und immer wieder die Blicke der Welt auf sich lenken. So
wird eine weiter zurückreichende Überschau über die Hauptmomente in ihrer
Entwicklung notwendig, die auch andre asiatische Länder als Turkmcuien und
Afghanistan in den Kreis ihrer Betrachtung zieht und nach dem dort Geschehenen
die Gegenwart zu beurteilen und auf die Zukunft zu schließen versucht.

Die asiatische,, Pläne Napoleons des Ersten, die ans ein Bündnis mit
Tippn Sahib, dem Fürsten von Mysore, und eine Eroberung Indiens mit
dessen Beistand hinausliefen, und bei denen auch die Perser und die Afghane»
mit in Rechnung gezogen wurden, waren mißlungen und hatten nur zur Aus¬
dehnung und Befestigung der englischen Macht im Orient geführt. Frankreich
verlor hier den letzten Rest seines Einflusses, und Rußland und England standen
sich nun in diesen, Teile der Welt als einzige Nebenbuhler von Bedeutung
gegenüber. Alsbald begannen sich ihre Agenten, die meist unter dem Vorwande,
Handelsverbindungen anknüpfen zu wollen, reisten, in den Ländern der Grenz-
nachbcm, Indiens zu kreuzen und gegen einander Ränke zu spinnen. Einer
von den ersten russischen Emissären dieser Art war Mehdi Nafciel, der Sohn
eines Jude,, aus Kaschmir, der sich in Nußland niedergelassen hatte. Er kam
um das Jahr 1824 unter anderm mit Briefen, die von Graf Nesselrode unter¬
zeichnet waren, zum Nadschah von Ladak und zum Maharcidschcch von Lahore,
um diese Fürsten zu veranlassen, mit Kaiser Alexander in freundschaftliche Be¬
ziehungen zu treten und Gesandte nach Petersburg zu schicken. Derselbe Agent


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[0007] Beiträge zum Verständnis der mittelasiatischen Frage. i. ir haben vor einigen Wochen einen Rückblick auf die neueste Ge¬ staltung des Streites gethan, zu dem die Verschiedenheit der Interessen Englands und Rußlands in Asien geführt hat, und in der letzten Nummer den gegenwärtigen Stand der Dinge zu beleuchten versucht. Es schien uns dabei, als ob der drohende Zusammenstoß der beiden Mächte für jetzt noch vermieden werden könne, wir durften aber nicht verschweigen, daß damit nur eine Vertagung erreicht werden würde, und zwar, da die Gegner einander sehr nahe gerückt sind, wahrscheinlich nur für kurze Zeit. Die Meinungsverschiedenheiten, die jetzt schon nach dem Nordwesten Afghanistans hineinspielen, können in Einzelheiten vorläufig einer Verständigung weichen. Sehr bald aber werden am Oxus neue auftauchen, und wenn auch diese ausgeglichen werde:? sollten, so wird die Frage damit doch nicht gelöst sein und immer wieder die Blicke der Welt auf sich lenken. So wird eine weiter zurückreichende Überschau über die Hauptmomente in ihrer Entwicklung notwendig, die auch andre asiatische Länder als Turkmcuien und Afghanistan in den Kreis ihrer Betrachtung zieht und nach dem dort Geschehenen die Gegenwart zu beurteilen und auf die Zukunft zu schließen versucht. Die asiatische,, Pläne Napoleons des Ersten, die ans ein Bündnis mit Tippn Sahib, dem Fürsten von Mysore, und eine Eroberung Indiens mit dessen Beistand hinausliefen, und bei denen auch die Perser und die Afghane» mit in Rechnung gezogen wurden, waren mißlungen und hatten nur zur Aus¬ dehnung und Befestigung der englischen Macht im Orient geführt. Frankreich verlor hier den letzten Rest seines Einflusses, und Rußland und England standen sich nun in diesen, Teile der Welt als einzige Nebenbuhler von Bedeutung gegenüber. Alsbald begannen sich ihre Agenten, die meist unter dem Vorwande, Handelsverbindungen anknüpfen zu wollen, reisten, in den Ländern der Grenz- nachbcm, Indiens zu kreuzen und gegen einander Ränke zu spinnen. Einer von den ersten russischen Emissären dieser Art war Mehdi Nafciel, der Sohn eines Jude,, aus Kaschmir, der sich in Nußland niedergelassen hatte. Er kam um das Jahr 1824 unter anderm mit Briefen, die von Graf Nesselrode unter¬ zeichnet waren, zum Nadschah von Ladak und zum Maharcidschcch von Lahore, um diese Fürsten zu veranlassen, mit Kaiser Alexander in freundschaftliche Be¬ ziehungen zu treten und Gesandte nach Petersburg zu schicken. Derselbe Agent

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/7>, abgerufen am 04.05.2024.