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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Die erste Konstitution für Österreich.

in so mancher andre Staat, kann Österreich innerlich nicht zur
Ruhe gelangen, weil wiederholt neue Grundgesetze erlassen worden
sind, ohne daß man sich die Mühe genommen hätte, vom Alten zum
Neuen die Brücke zu schlagen. Oktroirung oder Umsturz -- die
Frucht bleibt die nämliche, daß der bestehende Zustand nur von
einem Teile der Bevölkerung als ein rechtlicher anerkannt wird. Das Merk¬
würdige ist, daß dieser Maugel oder Fehler instinktiv von allen Parteien
empfunden wird. In Frankreich z. B. stellen sich sämtliche Parteien in gewissem
Sinne auf den legitimistischen Standpunkt. Royalisten der alten und der neuen
Linie, Bonapartisten, Republikaner, alle berufen sich gelegentlich auf eine
Periode, während welcher sie anerkanntermaßen geherrscht haben, und selbst die
Anarchisten haben ihren Rechtsboden von 1793 und 1871; aber thatsächlich
an das Bestehende anzuknüpfen, wenn sie die Macht haben, ihre Grundsätze zur
Geltung zu bringen, das fällt keinem von ihnen ein. Natürlich wird das auch
immer schwerer, je länger dieser revolutionäre Zustand andauert, und je gründ¬
licher daher der Sinn für gesetzliche Entwicklung ausgerottet wird. Etwas
ähnliches erblicken wir wie gesagt in Österreich. Im März 1848 hatte der
Absolutismus rechtlich sein Ende erreicht, und daran änderte die Thatsache
nichts, daß der konstituirende Reichstag, wie die meisten konstituirenden Ver¬
sammlungen jenes Jahres, nicht Zeit gewann, die im Prinzip gewährte Ver¬
fassung formell festzustellen, weil die Lust, Konvent zu spielen, zu groß war.
Das erkannte auch das Ministerium Schwarzenberg dadurch an, daß es sich
nicht begnügte, den Reichstag in Kremsier aufzulösen, bevor er sein Verfassungs¬
werk beendigt hatte, sondern gleichzeitig eine Verfassungsurkunde erließ. Die
Berechtigung dazu war anfechtbar und doch nicht schlechthin zu leugnen. Genug,


Grenzboten III. 1885, SS


Die erste Konstitution für Österreich.

in so mancher andre Staat, kann Österreich innerlich nicht zur
Ruhe gelangen, weil wiederholt neue Grundgesetze erlassen worden
sind, ohne daß man sich die Mühe genommen hätte, vom Alten zum
Neuen die Brücke zu schlagen. Oktroirung oder Umsturz — die
Frucht bleibt die nämliche, daß der bestehende Zustand nur von
einem Teile der Bevölkerung als ein rechtlicher anerkannt wird. Das Merk¬
würdige ist, daß dieser Maugel oder Fehler instinktiv von allen Parteien
empfunden wird. In Frankreich z. B. stellen sich sämtliche Parteien in gewissem
Sinne auf den legitimistischen Standpunkt. Royalisten der alten und der neuen
Linie, Bonapartisten, Republikaner, alle berufen sich gelegentlich auf eine
Periode, während welcher sie anerkanntermaßen geherrscht haben, und selbst die
Anarchisten haben ihren Rechtsboden von 1793 und 1871; aber thatsächlich
an das Bestehende anzuknüpfen, wenn sie die Macht haben, ihre Grundsätze zur
Geltung zu bringen, das fällt keinem von ihnen ein. Natürlich wird das auch
immer schwerer, je länger dieser revolutionäre Zustand andauert, und je gründ¬
licher daher der Sinn für gesetzliche Entwicklung ausgerottet wird. Etwas
ähnliches erblicken wir wie gesagt in Österreich. Im März 1848 hatte der
Absolutismus rechtlich sein Ende erreicht, und daran änderte die Thatsache
nichts, daß der konstituirende Reichstag, wie die meisten konstituirenden Ver¬
sammlungen jenes Jahres, nicht Zeit gewann, die im Prinzip gewährte Ver¬
fassung formell festzustellen, weil die Lust, Konvent zu spielen, zu groß war.
Das erkannte auch das Ministerium Schwarzenberg dadurch an, daß es sich
nicht begnügte, den Reichstag in Kremsier aufzulösen, bevor er sein Verfassungs¬
werk beendigt hatte, sondern gleichzeitig eine Verfassungsurkunde erließ. Die
Berechtigung dazu war anfechtbar und doch nicht schlechthin zu leugnen. Genug,


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[0441] [Abbildung] Die erste Konstitution für Österreich. in so mancher andre Staat, kann Österreich innerlich nicht zur Ruhe gelangen, weil wiederholt neue Grundgesetze erlassen worden sind, ohne daß man sich die Mühe genommen hätte, vom Alten zum Neuen die Brücke zu schlagen. Oktroirung oder Umsturz — die Frucht bleibt die nämliche, daß der bestehende Zustand nur von einem Teile der Bevölkerung als ein rechtlicher anerkannt wird. Das Merk¬ würdige ist, daß dieser Maugel oder Fehler instinktiv von allen Parteien empfunden wird. In Frankreich z. B. stellen sich sämtliche Parteien in gewissem Sinne auf den legitimistischen Standpunkt. Royalisten der alten und der neuen Linie, Bonapartisten, Republikaner, alle berufen sich gelegentlich auf eine Periode, während welcher sie anerkanntermaßen geherrscht haben, und selbst die Anarchisten haben ihren Rechtsboden von 1793 und 1871; aber thatsächlich an das Bestehende anzuknüpfen, wenn sie die Macht haben, ihre Grundsätze zur Geltung zu bringen, das fällt keinem von ihnen ein. Natürlich wird das auch immer schwerer, je länger dieser revolutionäre Zustand andauert, und je gründ¬ licher daher der Sinn für gesetzliche Entwicklung ausgerottet wird. Etwas ähnliches erblicken wir wie gesagt in Österreich. Im März 1848 hatte der Absolutismus rechtlich sein Ende erreicht, und daran änderte die Thatsache nichts, daß der konstituirende Reichstag, wie die meisten konstituirenden Ver¬ sammlungen jenes Jahres, nicht Zeit gewann, die im Prinzip gewährte Ver¬ fassung formell festzustellen, weil die Lust, Konvent zu spielen, zu groß war. Das erkannte auch das Ministerium Schwarzenberg dadurch an, daß es sich nicht begnügte, den Reichstag in Kremsier aufzulösen, bevor er sein Verfassungs¬ werk beendigt hatte, sondern gleichzeitig eine Verfassungsurkunde erließ. Die Berechtigung dazu war anfechtbar und doch nicht schlechthin zu leugnen. Genug, Grenzboten III. 1885, SS

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/441>, abgerufen am 30.04.2024.