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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Als der Großvater die Großmutter nahm.

Heinrich von Kleist nach Brechen die Entdeckung seines Dichterberufes gemacht
haben soll, er in Wahrheit schon die Anfänge des "Guiscard" hinter sich hatte
also bereits mit kühner Hand nach dem Kranze der Unsterblichkeit griff.




Als der Großvater die Großmutter nahm.

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T-ÄW^W^^o lautet der Titel eines vor kurzem in zweiter (vermehrter und
verbesserter) Auflage bei Fr. Wilh. Gruuow in Leipzig erschie¬
nenen "Liederbuches für altmodische Leute," dessen Sammler und
Herausgeber der Leipziger Stadtbibliothekar Dr. G. Wustmann ist.
Das schön und eigentümlich ausgestattete Buch hat sich bereits
in seiner ersten Auflage in vielen Familien heimisch gemacht. Es hat schon
vorm Jahre auf dem Weihnachtstische so manches Hauses unteren Taunengezweig
hervorgelugt und die würdige Hausfrau zu einem fröhlichen Lachen gestimmt,
es hat sich auf dem Geburtstagstische der Tante, auf dem Nähtischchen der
Schwester sittsam einzuführen gewußt, und es hat auch auf dein Schreibtische des
ernsten Vaters ein bescheidenes Eckchen erobert. So wird es auch fürder, im Zickzack
oder sprungweise oder wie es gerade paßt, seinen Weg gehen. Das "Lieder¬
buch" enthält 388 Gedichte, Erzählungen, Lieder und Opernnnmmeru, die seit
etwa ciuhundertfünfzig Jahren eine kürzere oder längere Zeit Lieblinge, Hausfreunde,
Vertraute des Volkes gewesen sind -- wie wenn es so anheimelnd in der alten
Chronik des Städtchens Limburg im Nassauischen immer und immer wieder
lautet: "In diesem Jahre aber sang man und pfiff man folgendes Lied," oder
wie es in derselben Chronik nach dem großen Sterben von 1348 heißt: "Da
machten sich die Leute neue Kleider und sangen neue Lieder." Dann ist das
Buch also wohl ein Volksliederbuch (wie es schon viele giebt) oder -- nichts
für ungut -- eine Sammlung von Gassenhauern, wie: Mutter, der Mann mit
dem Coaks ist da? Bewahre! Nicht ein Vvlksliederbuch im engern Sinne ist
es, obgleich man von einzelnen der aufgenommenen Lieder die Verfasser nicht
mehr kennt, und obgleich im Grnnde alle zu Volksliedern geworden sind,
noch weniger ein Gassenhauer- oder Bäukclsäugerliederbuch, sondern eine ehrsame
Sammlung von Kunstdichtungen (bekannter und unbekannter Dichter), die nach
und nach mit Volksliednimbus umkleidet in Fleisch und Blut des Volkskörpers
übergegangen sind, wie: Als ich noch im Flügelkleidc -- An einem Fluß, der
rauschend schoß -- Arm und klein ist meine Hütte -- Ausgelitten hast du, aus¬
gerungen -- Blühe, liebes Veilchen -- Der liebe Sonntag kömmt heran --
Die Welt ist nichts als ein Orchester -- Eine faule Grille sang -- Eine
kleine Biene flog -- Eines Abends, mal sehr späte -- Ein junges Lämmchen,
weiß wie Schnee -- Ein milchweiß Mäuschen war einmal -- Es schiffte ein


Grenzboten IV. 1886. 49
Als der Großvater die Großmutter nahm.

Heinrich von Kleist nach Brechen die Entdeckung seines Dichterberufes gemacht
haben soll, er in Wahrheit schon die Anfänge des „Guiscard" hinter sich hatte
also bereits mit kühner Hand nach dem Kranze der Unsterblichkeit griff.




Als der Großvater die Großmutter nahm.

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T-ÄW^W^^o lautet der Titel eines vor kurzem in zweiter (vermehrter und
verbesserter) Auflage bei Fr. Wilh. Gruuow in Leipzig erschie¬
nenen „Liederbuches für altmodische Leute," dessen Sammler und
Herausgeber der Leipziger Stadtbibliothekar Dr. G. Wustmann ist.
Das schön und eigentümlich ausgestattete Buch hat sich bereits
in seiner ersten Auflage in vielen Familien heimisch gemacht. Es hat schon
vorm Jahre auf dem Weihnachtstische so manches Hauses unteren Taunengezweig
hervorgelugt und die würdige Hausfrau zu einem fröhlichen Lachen gestimmt,
es hat sich auf dem Geburtstagstische der Tante, auf dem Nähtischchen der
Schwester sittsam einzuführen gewußt, und es hat auch auf dein Schreibtische des
ernsten Vaters ein bescheidenes Eckchen erobert. So wird es auch fürder, im Zickzack
oder sprungweise oder wie es gerade paßt, seinen Weg gehen. Das „Lieder¬
buch" enthält 388 Gedichte, Erzählungen, Lieder und Opernnnmmeru, die seit
etwa ciuhundertfünfzig Jahren eine kürzere oder längere Zeit Lieblinge, Hausfreunde,
Vertraute des Volkes gewesen sind — wie wenn es so anheimelnd in der alten
Chronik des Städtchens Limburg im Nassauischen immer und immer wieder
lautet: „In diesem Jahre aber sang man und pfiff man folgendes Lied," oder
wie es in derselben Chronik nach dem großen Sterben von 1348 heißt: „Da
machten sich die Leute neue Kleider und sangen neue Lieder." Dann ist das
Buch also wohl ein Volksliederbuch (wie es schon viele giebt) oder — nichts
für ungut — eine Sammlung von Gassenhauern, wie: Mutter, der Mann mit
dem Coaks ist da? Bewahre! Nicht ein Vvlksliederbuch im engern Sinne ist
es, obgleich man von einzelnen der aufgenommenen Lieder die Verfasser nicht
mehr kennt, und obgleich im Grnnde alle zu Volksliedern geworden sind,
noch weniger ein Gassenhauer- oder Bäukclsäugerliederbuch, sondern eine ehrsame
Sammlung von Kunstdichtungen (bekannter und unbekannter Dichter), die nach
und nach mit Volksliednimbus umkleidet in Fleisch und Blut des Volkskörpers
übergegangen sind, wie: Als ich noch im Flügelkleidc — An einem Fluß, der
rauschend schoß — Arm und klein ist meine Hütte — Ausgelitten hast du, aus¬
gerungen — Blühe, liebes Veilchen — Der liebe Sonntag kömmt heran —
Die Welt ist nichts als ein Orchester — Eine faule Grille sang — Eine
kleine Biene flog — Eines Abends, mal sehr späte — Ein junges Lämmchen,
weiß wie Schnee — Ein milchweiß Mäuschen war einmal — Es schiffte ein


Grenzboten IV. 1886. 49
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[0393] Als der Großvater die Großmutter nahm. Heinrich von Kleist nach Brechen die Entdeckung seines Dichterberufes gemacht haben soll, er in Wahrheit schon die Anfänge des „Guiscard" hinter sich hatte also bereits mit kühner Hand nach dem Kranze der Unsterblichkeit griff. Als der Großvater die Großmutter nahm. KivW'^^M»/ «W'U^^^ T-ÄW^W^^o lautet der Titel eines vor kurzem in zweiter (vermehrter und verbesserter) Auflage bei Fr. Wilh. Gruuow in Leipzig erschie¬ nenen „Liederbuches für altmodische Leute," dessen Sammler und Herausgeber der Leipziger Stadtbibliothekar Dr. G. Wustmann ist. Das schön und eigentümlich ausgestattete Buch hat sich bereits in seiner ersten Auflage in vielen Familien heimisch gemacht. Es hat schon vorm Jahre auf dem Weihnachtstische so manches Hauses unteren Taunengezweig hervorgelugt und die würdige Hausfrau zu einem fröhlichen Lachen gestimmt, es hat sich auf dem Geburtstagstische der Tante, auf dem Nähtischchen der Schwester sittsam einzuführen gewußt, und es hat auch auf dein Schreibtische des ernsten Vaters ein bescheidenes Eckchen erobert. So wird es auch fürder, im Zickzack oder sprungweise oder wie es gerade paßt, seinen Weg gehen. Das „Lieder¬ buch" enthält 388 Gedichte, Erzählungen, Lieder und Opernnnmmeru, die seit etwa ciuhundertfünfzig Jahren eine kürzere oder längere Zeit Lieblinge, Hausfreunde, Vertraute des Volkes gewesen sind — wie wenn es so anheimelnd in der alten Chronik des Städtchens Limburg im Nassauischen immer und immer wieder lautet: „In diesem Jahre aber sang man und pfiff man folgendes Lied," oder wie es in derselben Chronik nach dem großen Sterben von 1348 heißt: „Da machten sich die Leute neue Kleider und sangen neue Lieder." Dann ist das Buch also wohl ein Volksliederbuch (wie es schon viele giebt) oder — nichts für ungut — eine Sammlung von Gassenhauern, wie: Mutter, der Mann mit dem Coaks ist da? Bewahre! Nicht ein Vvlksliederbuch im engern Sinne ist es, obgleich man von einzelnen der aufgenommenen Lieder die Verfasser nicht mehr kennt, und obgleich im Grnnde alle zu Volksliedern geworden sind, noch weniger ein Gassenhauer- oder Bäukclsäugerliederbuch, sondern eine ehrsame Sammlung von Kunstdichtungen (bekannter und unbekannter Dichter), die nach und nach mit Volksliednimbus umkleidet in Fleisch und Blut des Volkskörpers übergegangen sind, wie: Als ich noch im Flügelkleidc — An einem Fluß, der rauschend schoß — Arm und klein ist meine Hütte — Ausgelitten hast du, aus¬ gerungen — Blühe, liebes Veilchen — Der liebe Sonntag kömmt heran — Die Welt ist nichts als ein Orchester — Eine faule Grille sang — Eine kleine Biene flog — Eines Abends, mal sehr späte — Ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee — Ein milchweiß Mäuschen war einmal — Es schiffte ein Grenzboten IV. 1886. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/393>, abgerufen am 30.04.2024.