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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Als der Großvater die Großmutter nahm.

Mägdlein über die See -- Es war einmal ein dicker, fetter Mops -- Heinrich
lag bei seiner Neuvermählten -- Helmuth war ein Friedenstörer -- Hier ruhst
du, Karl, hier werd' ich ruhn -- Ich bin der Doktor Eisenbart -- Ich saß
am Markte stundenlang -- In des Waldes finstern Gründen -- In Mirtills
zerfallner Hütte -- In seinem Fenster lag Herr Schmolk -- Johann der
muntre Seifensieder -- Jüngling, wenn ich dich von fern erblicke -- Linchen,
einst wirst du die Meine -- Mein guter Michel liebet mich -- Mein Herr
Maler, wollt' er wohl -- Noch einmal, Heinrich, eh' wir scheiden -- Tier und
Menschen schliefen feste -- Um das Rhinozeros zu sehn -- Was ist der Mensch?
Halb Tier, halb Engel -- Zu Stephen sprach im Traume u. s. w. u. s. w.
Die Sammlung reicht etwa bis 1840>; das Neueste, was noch auf aller Lippen
schwebt, bietet sie nicht, ebenso sind die bekanntesten und größten unsrer Dichter
weggelassen, weil man das, was man von ihnen etwa suchen möchte, doch wohl auf
seinem Bücherbrette findet. Lieder also, wie das Haidenröslein, das Lied an
die Freude, der Wirtin Töchterlein sind nicht darin.

An die Verfasser möchte ich den ersten Faden meiner Betrachtung an¬
knüpfen. Goethe, Schiller, unsre großen Meister, haben verhältnismäßig wenige
Gedichte geliefert, die ganz und gar Eigentum des Volkes geworden sind und
in aller Munde leben. Von Goethe dürfte kaum mehr als das Haidenröslein,
der Erlkönig, der Zauberlehrling, der Fischer, Freudvoll und leidvoll zu nennen
sein; andre wie die Gretchenlieder im "Faust" und die Mignonlieder sind
gleichsam nur zur Hälfte volkstümlich geworden. Von Schiller sind das Lied
an die Freude, die Glocke, das Mädchen aus der Fremde, An der Quelle
saß der Knabe und die Balladen wohl die bekanntesten und beliebtesten, andre
streifen auch nur das Volksbehagen. Dagegen ist eine große Menge von ein¬
zelnen Stellen aus den Werken der beiden Meister fast ganz in den Sprich¬
wörterschatz der Nation übergegangen und in aller Munde.- Man sieht, die
Kunstdichtung Schillers und Goethes wendet sich mehr an die literarisch Ge¬
bildeten als an das Publikum und dringt nur tropfenweise in das innerste
Volksleben ein. Merkwürdig ist auch, daß das Häuflein der allbekannten
Schillerschen und Goethischen Zitate trotz der erweiterten Klassikerlektüre in den
Schulen immer mehr zusammenschmilzt. Möglich, daß der tiefe philosophische
Gehalt dem Eindringen der Sprüche eher hinderlich als förderlich ist. Von
vielen Dichtern der klassischen Periode ist garnichts volkstümlich, d. h. spruch-
und gesangkräftig geworden. Von Klopstocks, Wielands, Lessings Werken ent¬
fernen wir uns mehr und mehr, ohne es zu wissen und zu wollen. So findet
sich auch in unserm Liederbuche nur ein Gedicht von Lessing: Der Tod (Gestern,
Brüder, könnt ihrs glauben), nur eins von Klopstock: Ich bin ein deutsches
Mädchen, von Herder und Wieland nichts. Zu dieser Dürftigkeit der Klassiker
im strengeren Sinne steht die volkstümliche Fruchtbarkeit untergeordneter Dichter
und Dichterkreise in einem ganz auffallenden Gegensatze. Und unter diesen


Als der Großvater die Großmutter nahm.

Mägdlein über die See — Es war einmal ein dicker, fetter Mops — Heinrich
lag bei seiner Neuvermählten — Helmuth war ein Friedenstörer — Hier ruhst
du, Karl, hier werd' ich ruhn — Ich bin der Doktor Eisenbart — Ich saß
am Markte stundenlang — In des Waldes finstern Gründen — In Mirtills
zerfallner Hütte — In seinem Fenster lag Herr Schmolk — Johann der
muntre Seifensieder — Jüngling, wenn ich dich von fern erblicke — Linchen,
einst wirst du die Meine — Mein guter Michel liebet mich — Mein Herr
Maler, wollt' er wohl — Noch einmal, Heinrich, eh' wir scheiden — Tier und
Menschen schliefen feste — Um das Rhinozeros zu sehn — Was ist der Mensch?
Halb Tier, halb Engel — Zu Stephen sprach im Traume u. s. w. u. s. w.
Die Sammlung reicht etwa bis 1840>; das Neueste, was noch auf aller Lippen
schwebt, bietet sie nicht, ebenso sind die bekanntesten und größten unsrer Dichter
weggelassen, weil man das, was man von ihnen etwa suchen möchte, doch wohl auf
seinem Bücherbrette findet. Lieder also, wie das Haidenröslein, das Lied an
die Freude, der Wirtin Töchterlein sind nicht darin.

An die Verfasser möchte ich den ersten Faden meiner Betrachtung an¬
knüpfen. Goethe, Schiller, unsre großen Meister, haben verhältnismäßig wenige
Gedichte geliefert, die ganz und gar Eigentum des Volkes geworden sind und
in aller Munde leben. Von Goethe dürfte kaum mehr als das Haidenröslein,
der Erlkönig, der Zauberlehrling, der Fischer, Freudvoll und leidvoll zu nennen
sein; andre wie die Gretchenlieder im „Faust" und die Mignonlieder sind
gleichsam nur zur Hälfte volkstümlich geworden. Von Schiller sind das Lied
an die Freude, die Glocke, das Mädchen aus der Fremde, An der Quelle
saß der Knabe und die Balladen wohl die bekanntesten und beliebtesten, andre
streifen auch nur das Volksbehagen. Dagegen ist eine große Menge von ein¬
zelnen Stellen aus den Werken der beiden Meister fast ganz in den Sprich¬
wörterschatz der Nation übergegangen und in aller Munde.- Man sieht, die
Kunstdichtung Schillers und Goethes wendet sich mehr an die literarisch Ge¬
bildeten als an das Publikum und dringt nur tropfenweise in das innerste
Volksleben ein. Merkwürdig ist auch, daß das Häuflein der allbekannten
Schillerschen und Goethischen Zitate trotz der erweiterten Klassikerlektüre in den
Schulen immer mehr zusammenschmilzt. Möglich, daß der tiefe philosophische
Gehalt dem Eindringen der Sprüche eher hinderlich als förderlich ist. Von
vielen Dichtern der klassischen Periode ist garnichts volkstümlich, d. h. spruch-
und gesangkräftig geworden. Von Klopstocks, Wielands, Lessings Werken ent¬
fernen wir uns mehr und mehr, ohne es zu wissen und zu wollen. So findet
sich auch in unserm Liederbuche nur ein Gedicht von Lessing: Der Tod (Gestern,
Brüder, könnt ihrs glauben), nur eins von Klopstock: Ich bin ein deutsches
Mädchen, von Herder und Wieland nichts. Zu dieser Dürftigkeit der Klassiker
im strengeren Sinne steht die volkstümliche Fruchtbarkeit untergeordneter Dichter
und Dichterkreise in einem ganz auffallenden Gegensatze. Und unter diesen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/394>, abgerufen am 17.05.2024.