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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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(Line kritische Auseinandersetzung.

hrer Denkweise sehr entsprechend und charakteristisch für ihre
Literatur im großen und ganzen, nennen die Franzosen, im
Gegensatze zu uns, nur Verse Poesie und nur den, der Verse macht,
einen Dichter, während sie diesen Namen dem Prosaiker in keinem
Falle zuerkennen, sei derselbe auch ein Cervantes oder Dickens,
Darin liegt zweierlei. Erstens der Beweis eines starken Fvrmbewußtseins, welches
sämtlichen romanischen Völkern in höherm Grade als den germanischen eigen¬
tümlich und gewiß eine Tugend zu nennen ist; zweitens die dieser Tugend
entsprechende Sünde. Jenes Formgefühl ist nämlich doch nur so lange eine
Tugend, als es sich nicht mit der Form an sich begnügt, sondern dieselbe mir
da gelten läßt, wo sie die Form eines sie ganz erfüllenden, bedeutenden Inhalts
ist. Dem veränßerlichten Formbewußtseiu, dessen Geltung und Herrschaft in
der Kunst mit dem Ausdruck Formalismus bezeichnet worden ist, begegnet es
nicht bloß, gar zu leicht leeren Formen das Wort zu reden, sondern auch die
Form überhaupt uur als einzigen Maßstab gelten zu lassen, also etwa die tiefste
Fülle von Poesie nicht als solche anzuerkennen, weil sie nicht im Faltenwurfe
des Verses erscheint. Dieses letztere aber thut die französische Sprache mit der
erwähnten Bezeichnungsweise. Dabei ist, nebenbei bemerkt, folgende Beobachtung
sehr interessant. Die Prosasprache, die beim französischen Romandichter nach
dessen eigner Auffassung nicht ein Mittel der Poesie sein soll, ist seit Rousseau
bei einzelnen Bessern von größter natürlicher Einfachheit, Unmittelbarkeit und
versiuulicheuder Kraft, mit einem Wort: von spezifisch-poetischer Wirkung. Da¬
gegen sind in Frankreich Verse, besonders lyrische, ohne odenhasteu Bombast,
Schwulst und breites rhetorisches Pathos etwas sehr seltenes. Nichts prosaischeres
als eine solche "Ode."

Nein, niemand wird in Deutschland zweifeln, daß unsre Auffassung von
Poesie eine tiefere, umfassendere und vor allem eine modernere sei. In der
That, die französische Anffassungs- und Bezeichuungsweise ist fiir uns veraltet.
Sie fußt ganz und gar auf den Kunstanschauuugen der Renaissance, welche von
Dichtung und Dichtern alles mögliche eher verlangte, als was nur Poesie nennen:
jene stimmungsvoll ergreifende, eigenartig zauberhafte Beleuchtung der Welt und
der Dinge aus dem Focus einer außerordentlichen Subjektivität heraus. Daß
eine sonst so moderne Nation trotz ihrer glücklichen Kämpfe gegen den Klassi¬
zismus über die unmoderne formalistische Anschauung, und nicht nur die
sprachliche, noch nicht hinweggekommen ist, könnte verwundern. Allerdings hat


(Line kritische Auseinandersetzung.

hrer Denkweise sehr entsprechend und charakteristisch für ihre
Literatur im großen und ganzen, nennen die Franzosen, im
Gegensatze zu uns, nur Verse Poesie und nur den, der Verse macht,
einen Dichter, während sie diesen Namen dem Prosaiker in keinem
Falle zuerkennen, sei derselbe auch ein Cervantes oder Dickens,
Darin liegt zweierlei. Erstens der Beweis eines starken Fvrmbewußtseins, welches
sämtlichen romanischen Völkern in höherm Grade als den germanischen eigen¬
tümlich und gewiß eine Tugend zu nennen ist; zweitens die dieser Tugend
entsprechende Sünde. Jenes Formgefühl ist nämlich doch nur so lange eine
Tugend, als es sich nicht mit der Form an sich begnügt, sondern dieselbe mir
da gelten läßt, wo sie die Form eines sie ganz erfüllenden, bedeutenden Inhalts
ist. Dem veränßerlichten Formbewußtseiu, dessen Geltung und Herrschaft in
der Kunst mit dem Ausdruck Formalismus bezeichnet worden ist, begegnet es
nicht bloß, gar zu leicht leeren Formen das Wort zu reden, sondern auch die
Form überhaupt uur als einzigen Maßstab gelten zu lassen, also etwa die tiefste
Fülle von Poesie nicht als solche anzuerkennen, weil sie nicht im Faltenwurfe
des Verses erscheint. Dieses letztere aber thut die französische Sprache mit der
erwähnten Bezeichnungsweise. Dabei ist, nebenbei bemerkt, folgende Beobachtung
sehr interessant. Die Prosasprache, die beim französischen Romandichter nach
dessen eigner Auffassung nicht ein Mittel der Poesie sein soll, ist seit Rousseau
bei einzelnen Bessern von größter natürlicher Einfachheit, Unmittelbarkeit und
versiuulicheuder Kraft, mit einem Wort: von spezifisch-poetischer Wirkung. Da¬
gegen sind in Frankreich Verse, besonders lyrische, ohne odenhasteu Bombast,
Schwulst und breites rhetorisches Pathos etwas sehr seltenes. Nichts prosaischeres
als eine solche „Ode."

Nein, niemand wird in Deutschland zweifeln, daß unsre Auffassung von
Poesie eine tiefere, umfassendere und vor allem eine modernere sei. In der
That, die französische Anffassungs- und Bezeichuungsweise ist fiir uns veraltet.
Sie fußt ganz und gar auf den Kunstanschauuugen der Renaissance, welche von
Dichtung und Dichtern alles mögliche eher verlangte, als was nur Poesie nennen:
jene stimmungsvoll ergreifende, eigenartig zauberhafte Beleuchtung der Welt und
der Dinge aus dem Focus einer außerordentlichen Subjektivität heraus. Daß
eine sonst so moderne Nation trotz ihrer glücklichen Kämpfe gegen den Klassi¬
zismus über die unmoderne formalistische Anschauung, und nicht nur die
sprachliche, noch nicht hinweggekommen ist, könnte verwundern. Allerdings hat


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[0426] (Line kritische Auseinandersetzung. hrer Denkweise sehr entsprechend und charakteristisch für ihre Literatur im großen und ganzen, nennen die Franzosen, im Gegensatze zu uns, nur Verse Poesie und nur den, der Verse macht, einen Dichter, während sie diesen Namen dem Prosaiker in keinem Falle zuerkennen, sei derselbe auch ein Cervantes oder Dickens, Darin liegt zweierlei. Erstens der Beweis eines starken Fvrmbewußtseins, welches sämtlichen romanischen Völkern in höherm Grade als den germanischen eigen¬ tümlich und gewiß eine Tugend zu nennen ist; zweitens die dieser Tugend entsprechende Sünde. Jenes Formgefühl ist nämlich doch nur so lange eine Tugend, als es sich nicht mit der Form an sich begnügt, sondern dieselbe mir da gelten läßt, wo sie die Form eines sie ganz erfüllenden, bedeutenden Inhalts ist. Dem veränßerlichten Formbewußtseiu, dessen Geltung und Herrschaft in der Kunst mit dem Ausdruck Formalismus bezeichnet worden ist, begegnet es nicht bloß, gar zu leicht leeren Formen das Wort zu reden, sondern auch die Form überhaupt uur als einzigen Maßstab gelten zu lassen, also etwa die tiefste Fülle von Poesie nicht als solche anzuerkennen, weil sie nicht im Faltenwurfe des Verses erscheint. Dieses letztere aber thut die französische Sprache mit der erwähnten Bezeichnungsweise. Dabei ist, nebenbei bemerkt, folgende Beobachtung sehr interessant. Die Prosasprache, die beim französischen Romandichter nach dessen eigner Auffassung nicht ein Mittel der Poesie sein soll, ist seit Rousseau bei einzelnen Bessern von größter natürlicher Einfachheit, Unmittelbarkeit und versiuulicheuder Kraft, mit einem Wort: von spezifisch-poetischer Wirkung. Da¬ gegen sind in Frankreich Verse, besonders lyrische, ohne odenhasteu Bombast, Schwulst und breites rhetorisches Pathos etwas sehr seltenes. Nichts prosaischeres als eine solche „Ode." Nein, niemand wird in Deutschland zweifeln, daß unsre Auffassung von Poesie eine tiefere, umfassendere und vor allem eine modernere sei. In der That, die französische Anffassungs- und Bezeichuungsweise ist fiir uns veraltet. Sie fußt ganz und gar auf den Kunstanschauuugen der Renaissance, welche von Dichtung und Dichtern alles mögliche eher verlangte, als was nur Poesie nennen: jene stimmungsvoll ergreifende, eigenartig zauberhafte Beleuchtung der Welt und der Dinge aus dem Focus einer außerordentlichen Subjektivität heraus. Daß eine sonst so moderne Nation trotz ihrer glücklichen Kämpfe gegen den Klassi¬ zismus über die unmoderne formalistische Anschauung, und nicht nur die sprachliche, noch nicht hinweggekommen ist, könnte verwundern. Allerdings hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/426>, abgerufen am 29.04.2024.