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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Line kritische Auseinandersetzung.

die moderne Sprache das Bedürfnis gehabt, die alte Unterscheidung zu über¬
winden, und hat den sehr schönen. Ausdruck "Werke der Einbildungskraft"
-- 0ouvr<Z8 60 I'linÄA'WMon -- erzeugt, der den gedachten Unterschied aufhebt.
Daß sie darin nicht ganz konsequent ist, daran ist das obenerwähnte, zur Ver-
vbcrflächlichung neigende äußerliche Formgefühl der Romanen nicht allein schuld.
Ein tieferer Grund liegt vielmehr darin, daß der französischen Nation und den
meisten französischen "Poeten" nichts so fremd ist als das Wesen der Poesie,
weil ihr eignes Wesen daran keinen Teil hat. Das literarisch höchststehende
Voll Europas ist zugleich das wenigst poetische. Diese Thatsache hat sich in
der Geschichte der französischen Literatur deutlich genug ausgeprägt, und man kann
keck sagen: Im Verhältnis zu der unermeßlichen Zahl seiner guten, ja großen
und bedeutenden Schriftsteller hat Frankreich nur ein kleines Häuflein von Dichtern
aufzuweisen. Ich will hier nicht darauf eingehen, ob sich dieser Satz bei uns
vielleicht umleliren lasse. Dafür komme ich ans meinen Grundgedanken zurück
und betone noch einmal, daß ohne allen Widerspruch die der französischen ent¬
gegengesetzte Auffassungsweise der Poesie als die einzig richtige zu bezeichnen
ist, diejenige nämlich, welche den Unterschied von Poesie und Prosa in etwas
anderm als in abgezählten Silben und in Wörtern mit gleichen Ausländer sieht,
welche in Cervantes einen der größten Dichter der Weltliteratur, in Jean Paul
einen der reichsten Poeten unsrer eignen Nation bewundert und im Don Quixote
mehr Poesie findet als in dreißig "Befreiten Jerusalems" und ebensoviel "Ver¬
lornen Paradiesen," welche endlich im Roman die moderne Form des Epos
anerkennt. Also werden wir im Romanschriftsteller -- abscheuliches Wort! --
den Dichter ebensosehr anerkennen und gelten lassen wie im Urheber der "Odyssee."
Ja mehr, wir verlangen von ihm unabweisbar, daß er Dichter sei, und erkennen
ihm nur unter dieser Bedingung Bedeutung, ja Existenzberechtigung zu.

Wer ist das wir? Wir Deutschen doch natürlich?

Ja, unsre Sprache redet von Romandichtern, unser Volk auch; aber beide
scheinen es, wenigstens in den überwiegend meisten Fällen, gedankenlos zu thun,
eben Worte zu reden ohne jede Konsequenz. Wer weiß nicht, daß dieselben in
einem Roman alles andre eher suchen, als was man von einem Dichter ver¬
langt: nämlich Poesie in Kunstform, vor allem jedenfalls Menschen, und dies
in einem höhern Sinne des Wortes, Menschen im Gegensatz zu Bierphilistern
und Kommerzienräten? Was wollen sie vom Roman? Antwort: Mir irwlwm,
"sa "alni. Und dieses mullu, bedeutet wahrhaftig nicht wenig. Da will
der eine darüber aufgeklärt werdeu, was er von dem historischen Charakter des
Nemrod Assur, des Nabvnassar und des Nabopolassar, des Sanchuuiathon und
des Scmdvkrotus zu halten habe, ob Sphendadatos Pseuoosmerdes, gestorben
Anno 3462 nach Erschaffung der Welt, ein großer Mann oder ein Marktschreier,
ob Rhadagaisus seinen tapfern Heerhorden ein Vater oder ein Wüterich gewesen
sei; besonders dankbar wäre er, zu erfahren, durch welche Fehler der Taktik der


Line kritische Auseinandersetzung.

die moderne Sprache das Bedürfnis gehabt, die alte Unterscheidung zu über¬
winden, und hat den sehr schönen. Ausdruck „Werke der Einbildungskraft"
— 0ouvr<Z8 60 I'linÄA'WMon — erzeugt, der den gedachten Unterschied aufhebt.
Daß sie darin nicht ganz konsequent ist, daran ist das obenerwähnte, zur Ver-
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Ein tieferer Grund liegt vielmehr darin, daß der französischen Nation und den
meisten französischen „Poeten" nichts so fremd ist als das Wesen der Poesie,
weil ihr eignes Wesen daran keinen Teil hat. Das literarisch höchststehende
Voll Europas ist zugleich das wenigst poetische. Diese Thatsache hat sich in
der Geschichte der französischen Literatur deutlich genug ausgeprägt, und man kann
keck sagen: Im Verhältnis zu der unermeßlichen Zahl seiner guten, ja großen
und bedeutenden Schriftsteller hat Frankreich nur ein kleines Häuflein von Dichtern
aufzuweisen. Ich will hier nicht darauf eingehen, ob sich dieser Satz bei uns
vielleicht umleliren lasse. Dafür komme ich ans meinen Grundgedanken zurück
und betone noch einmal, daß ohne allen Widerspruch die der französischen ent¬
gegengesetzte Auffassungsweise der Poesie als die einzig richtige zu bezeichnen
ist, diejenige nämlich, welche den Unterschied von Poesie und Prosa in etwas
anderm als in abgezählten Silben und in Wörtern mit gleichen Ausländer sieht,
welche in Cervantes einen der größten Dichter der Weltliteratur, in Jean Paul
einen der reichsten Poeten unsrer eignen Nation bewundert und im Don Quixote
mehr Poesie findet als in dreißig „Befreiten Jerusalems" und ebensoviel „Ver¬
lornen Paradiesen," welche endlich im Roman die moderne Form des Epos
anerkennt. Also werden wir im Romanschriftsteller — abscheuliches Wort! —
den Dichter ebensosehr anerkennen und gelten lassen wie im Urheber der „Odyssee."
Ja mehr, wir verlangen von ihm unabweisbar, daß er Dichter sei, und erkennen
ihm nur unter dieser Bedingung Bedeutung, ja Existenzberechtigung zu.

Wer ist das wir? Wir Deutschen doch natürlich?

Ja, unsre Sprache redet von Romandichtern, unser Volk auch; aber beide
scheinen es, wenigstens in den überwiegend meisten Fällen, gedankenlos zu thun,
eben Worte zu reden ohne jede Konsequenz. Wer weiß nicht, daß dieselben in
einem Roman alles andre eher suchen, als was man von einem Dichter ver¬
langt: nämlich Poesie in Kunstform, vor allem jedenfalls Menschen, und dies
in einem höhern Sinne des Wortes, Menschen im Gegensatz zu Bierphilistern
und Kommerzienräten? Was wollen sie vom Roman? Antwort: Mir irwlwm,
«sa »alni. Und dieses mullu, bedeutet wahrhaftig nicht wenig. Da will
der eine darüber aufgeklärt werdeu, was er von dem historischen Charakter des
Nemrod Assur, des Nabvnassar und des Nabopolassar, des Sanchuuiathon und
des Scmdvkrotus zu halten habe, ob Sphendadatos Pseuoosmerdes, gestorben
Anno 3462 nach Erschaffung der Welt, ein großer Mann oder ein Marktschreier,
ob Rhadagaisus seinen tapfern Heerhorden ein Vater oder ein Wüterich gewesen
sei; besonders dankbar wäre er, zu erfahren, durch welche Fehler der Taktik der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/427>, abgerufen am 16.05.2024.