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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal.

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Phantasiearmut und Illustrationswut.

user ganzes Geschlecht, vornehmlich aber unsre heranwachsende
Jugend, ist arm an Phantasie. Das ist eine Klage, die oft und
nicht am wenigsten ans dein Munde derer gehört wird, die unser
Volt und unsre Jugend kennen; man wird ihr mich die Berech¬
tigung nicht absprechen können. Phantcisicmangel ist eine Art
seelischer Blntarmnt, nicht gerade eine Krankheit, wohl aber ein ungesunder
Zustand; und die krankhafte Blässe, die glanzlosen Augen im Antlitze unsrer
Zeit hat wohl jeder bemerkt, der dieses Antlitz überhaupt zu schauen versteht.

An diesem Phantasiemangel trägt nicht nur die ganze Richtung unsrer
Zeit schuld, sondern vor allein anch unsre Pädagogik. Es darf dies umso
offener ausgesprochen werden, als ganz vor kurze", ein bedeutender Pädagog
die Phantasie geradezu das Stiefkind der neueren Pädagogik nannte. Stiefkinder
läßt man nicht gerade verhungern, aber man setzt sie zurück. Wie weit muß die
Phantasie jetzt zurückstehen hinter den rechten Kindern der Pädagogik, der Er¬
kenntnis und Anschauung! Überall fast gilt es als erster Grundsatz alles Lehrens:
"Nur dem Kinde nichts lehren, was es nicht vollständig versteht! Nur nichts
in seinen Jdeenkreis einführen, was nicht dnrch Anschauung unterstützt werden
kann!" Es sei fern von uns, den Wert der Anschauung überhaupt und be¬
sonders für einige Unterrichtsfächer in Frage zu stellen. Die Naturgeschichte
und die Naturlehre können ohne genügende Anschauungsmittel nicht erfolgreich
gelehrt werden. Beide Unterrichtszweige lasse" der Phantasie keinen Raum.
Ob es nun aber nötig ist, dem Quintaner das Tierskelett und dem kaum
vierzehnjährigen Tertianer das Knochengerippe des Menschen vorzuführen, ist
doch bestreitbar. Mit Recht hat man behauptet, daß frühzeitiger Einblick in
die geheimen Werkstätten der Natur dem kindlichen Wesen weit mehr schade,
als er dem Verstände nützt. Verschone man doch die Kindheit mit Dingen, die
sie im Grunde genommen nicht versteht trotz aller Skelette, Kopfauerschnitte und
Eingeweidemodelle! Das Grauen vor dem Knochengespenst ist etwas weit
natürlicheres als die altkluge Ruhe, mit der der Knabe die einzelnen Teile
desselben erklärt.

Auch die Geographie bedarf der Anschauungsmittel. Tcllnrien, Globen
und Landkarten sind unentbehrlich geworden. Auch wie viel diese Anschauungs¬
mittel an Klarheit, Deutlichkeit und Übersichtlichkeit gewonnen haben, ist bekannt.


Phantasiearmut und Illustrationswut.

user ganzes Geschlecht, vornehmlich aber unsre heranwachsende
Jugend, ist arm an Phantasie. Das ist eine Klage, die oft und
nicht am wenigsten ans dein Munde derer gehört wird, die unser
Volt und unsre Jugend kennen; man wird ihr mich die Berech¬
tigung nicht absprechen können. Phantcisicmangel ist eine Art
seelischer Blntarmnt, nicht gerade eine Krankheit, wohl aber ein ungesunder
Zustand; und die krankhafte Blässe, die glanzlosen Augen im Antlitze unsrer
Zeit hat wohl jeder bemerkt, der dieses Antlitz überhaupt zu schauen versteht.

An diesem Phantasiemangel trägt nicht nur die ganze Richtung unsrer
Zeit schuld, sondern vor allein anch unsre Pädagogik. Es darf dies umso
offener ausgesprochen werden, als ganz vor kurze», ein bedeutender Pädagog
die Phantasie geradezu das Stiefkind der neueren Pädagogik nannte. Stiefkinder
läßt man nicht gerade verhungern, aber man setzt sie zurück. Wie weit muß die
Phantasie jetzt zurückstehen hinter den rechten Kindern der Pädagogik, der Er¬
kenntnis und Anschauung! Überall fast gilt es als erster Grundsatz alles Lehrens:
„Nur dem Kinde nichts lehren, was es nicht vollständig versteht! Nur nichts
in seinen Jdeenkreis einführen, was nicht dnrch Anschauung unterstützt werden
kann!" Es sei fern von uns, den Wert der Anschauung überhaupt und be¬
sonders für einige Unterrichtsfächer in Frage zu stellen. Die Naturgeschichte
und die Naturlehre können ohne genügende Anschauungsmittel nicht erfolgreich
gelehrt werden. Beide Unterrichtszweige lasse» der Phantasie keinen Raum.
Ob es nun aber nötig ist, dem Quintaner das Tierskelett und dem kaum
vierzehnjährigen Tertianer das Knochengerippe des Menschen vorzuführen, ist
doch bestreitbar. Mit Recht hat man behauptet, daß frühzeitiger Einblick in
die geheimen Werkstätten der Natur dem kindlichen Wesen weit mehr schade,
als er dem Verstände nützt. Verschone man doch die Kindheit mit Dingen, die
sie im Grunde genommen nicht versteht trotz aller Skelette, Kopfauerschnitte und
Eingeweidemodelle! Das Grauen vor dem Knochengespenst ist etwas weit
natürlicheres als die altkluge Ruhe, mit der der Knabe die einzelnen Teile
desselben erklärt.

Auch die Geographie bedarf der Anschauungsmittel. Tcllnrien, Globen
und Landkarten sind unentbehrlich geworden. Auch wie viel diese Anschauungs¬
mittel an Klarheit, Deutlichkeit und Übersichtlichkeit gewonnen haben, ist bekannt.


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[0492] Phantasiearmut und Illustrationswut. user ganzes Geschlecht, vornehmlich aber unsre heranwachsende Jugend, ist arm an Phantasie. Das ist eine Klage, die oft und nicht am wenigsten ans dein Munde derer gehört wird, die unser Volt und unsre Jugend kennen; man wird ihr mich die Berech¬ tigung nicht absprechen können. Phantcisicmangel ist eine Art seelischer Blntarmnt, nicht gerade eine Krankheit, wohl aber ein ungesunder Zustand; und die krankhafte Blässe, die glanzlosen Augen im Antlitze unsrer Zeit hat wohl jeder bemerkt, der dieses Antlitz überhaupt zu schauen versteht. An diesem Phantasiemangel trägt nicht nur die ganze Richtung unsrer Zeit schuld, sondern vor allein anch unsre Pädagogik. Es darf dies umso offener ausgesprochen werden, als ganz vor kurze», ein bedeutender Pädagog die Phantasie geradezu das Stiefkind der neueren Pädagogik nannte. Stiefkinder läßt man nicht gerade verhungern, aber man setzt sie zurück. Wie weit muß die Phantasie jetzt zurückstehen hinter den rechten Kindern der Pädagogik, der Er¬ kenntnis und Anschauung! Überall fast gilt es als erster Grundsatz alles Lehrens: „Nur dem Kinde nichts lehren, was es nicht vollständig versteht! Nur nichts in seinen Jdeenkreis einführen, was nicht dnrch Anschauung unterstützt werden kann!" Es sei fern von uns, den Wert der Anschauung überhaupt und be¬ sonders für einige Unterrichtsfächer in Frage zu stellen. Die Naturgeschichte und die Naturlehre können ohne genügende Anschauungsmittel nicht erfolgreich gelehrt werden. Beide Unterrichtszweige lasse» der Phantasie keinen Raum. Ob es nun aber nötig ist, dem Quintaner das Tierskelett und dem kaum vierzehnjährigen Tertianer das Knochengerippe des Menschen vorzuführen, ist doch bestreitbar. Mit Recht hat man behauptet, daß frühzeitiger Einblick in die geheimen Werkstätten der Natur dem kindlichen Wesen weit mehr schade, als er dem Verstände nützt. Verschone man doch die Kindheit mit Dingen, die sie im Grunde genommen nicht versteht trotz aller Skelette, Kopfauerschnitte und Eingeweidemodelle! Das Grauen vor dem Knochengespenst ist etwas weit natürlicheres als die altkluge Ruhe, mit der der Knabe die einzelnen Teile desselben erklärt. Auch die Geographie bedarf der Anschauungsmittel. Tcllnrien, Globen und Landkarten sind unentbehrlich geworden. Auch wie viel diese Anschauungs¬ mittel an Klarheit, Deutlichkeit und Übersichtlichkeit gewonnen haben, ist bekannt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_199353/492>, abgerufen am 29.04.2024.