Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
(Lrich Schmidts Charakteristiken.

achten Erich Schmidt mit einem Werke großen Stils, seiner
zu drei Vierteilen vollendeten Lefsiugbiographie, sich seinen Platz
in der Wissenschaft gesichert hat, hat er, auch nach der strengern
Auffassung der akademischen Kreise, welche nicht gleich gesammelte
Feuilletons als ein "Buch" gelten lassen wollen, sich das Recht
erworben, seine bisher zerstreuten kleinern Schriften vereinigt herauszugeben.
Dies ist in dem stattlichen Bande von 500 Großoktav-Seiten geschehen, der
unter dem, freilich nicht überall zutreffenden, kurz cmgebundnen Titel "Charakte¬
ristiken" alle Essays, Studien, Kritiken und Vorträge bringt, welche Erich
Schmidt in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hat.") Wird auch dieses Buch
vermöge seiner strengen, eine mehr als gewöhnliche literarische Bildung voraus¬
setzenden Eigenart schwerlich in breitere Bildungskreise dringen und wohl am
wenigsten in die der Frauen, obgleich der Verfasser, welcher das Werk vier
Wiener Damen ans einmal gewidmet hat, diese Hoffnung zu hegen scheint, so
wird es jedenfalls dazu beitragen, daß die Bedeutung seiner Methode und seines
Könnens rückhaltlos anerkannt wird.

Das wichtigste ist, daß sich Erich Schmidt jener großen Strömung in den
Wissenschaften anschließt, welche das Ziel hat, daß jede Einzelwissenschaft mög¬
lichst auf die eignen Beine gestellt werde, Hilfsmittel, Methoden der Forschung
nicht minder als den letzten Zweck derselben nirgends anders als in sich selbst
suche und von dem mit der größten Sorgfalt durchackerten Boden der That¬
sachen in streng empirischem Fortschritte aufsteige zu jenen allgemeinen Ideen,
welche den Schlußstein aller Wissenschaft bilden sollen. Am allerwenigsten dürfen
die apriorischen Ideen der philosophischen Ästhetik die Zirkel eines solchen Forschers
stören. Er nimmt die Aufgabe des Literarhistorikers im allerstrengsten historischen
Sinne, vielleicht strenger noch als Wilhelm Scherer. Spricht Erich Schmidt
über eine literarische Erscheinung, so ist ihm dies niemals, wie sonst allen
Schriftstellern, der Anlaß, eine philosophische Idee, eine Weltanschauung, eine
künstlerische Lehre an seine Besprechung zu knüpfen, sondern das wie? wann?
und warum? des Geschehens geht ihn einzig und allein an. Mit der größten
Peinlichkeit werden allgemeine Wendungen vermieden, und zuweilen scheint es,
als ob der Verfasser für seine Person eigentlich nichts zu sagen hätte, er selbst
verschwindet ganz und gar hinter der Analyse des Gedichtes oder der Charakte¬
ristik der Persönlichkeit oder der verblüffenden Fülle gelehrter Daten, welche
zur Kennzeichnung des historischen Zusammenhanges des Einzelnen mit seiner
Zeit aufmarschiren- Machen diese Gelehrsamkeit und diese unpersönliche Sach-



*) Charakteristiken von Erich Schmidt. Berlin, Weidmannscho Buchhandlung, 1886.
Grenzboten I. 1887. ^
(Lrich Schmidts Charakteristiken.

achten Erich Schmidt mit einem Werke großen Stils, seiner
zu drei Vierteilen vollendeten Lefsiugbiographie, sich seinen Platz
in der Wissenschaft gesichert hat, hat er, auch nach der strengern
Auffassung der akademischen Kreise, welche nicht gleich gesammelte
Feuilletons als ein „Buch" gelten lassen wollen, sich das Recht
erworben, seine bisher zerstreuten kleinern Schriften vereinigt herauszugeben.
Dies ist in dem stattlichen Bande von 500 Großoktav-Seiten geschehen, der
unter dem, freilich nicht überall zutreffenden, kurz cmgebundnen Titel „Charakte¬
ristiken" alle Essays, Studien, Kritiken und Vorträge bringt, welche Erich
Schmidt in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hat.") Wird auch dieses Buch
vermöge seiner strengen, eine mehr als gewöhnliche literarische Bildung voraus¬
setzenden Eigenart schwerlich in breitere Bildungskreise dringen und wohl am
wenigsten in die der Frauen, obgleich der Verfasser, welcher das Werk vier
Wiener Damen ans einmal gewidmet hat, diese Hoffnung zu hegen scheint, so
wird es jedenfalls dazu beitragen, daß die Bedeutung seiner Methode und seines
Könnens rückhaltlos anerkannt wird.

Das wichtigste ist, daß sich Erich Schmidt jener großen Strömung in den
Wissenschaften anschließt, welche das Ziel hat, daß jede Einzelwissenschaft mög¬
lichst auf die eignen Beine gestellt werde, Hilfsmittel, Methoden der Forschung
nicht minder als den letzten Zweck derselben nirgends anders als in sich selbst
suche und von dem mit der größten Sorgfalt durchackerten Boden der That¬
sachen in streng empirischem Fortschritte aufsteige zu jenen allgemeinen Ideen,
welche den Schlußstein aller Wissenschaft bilden sollen. Am allerwenigsten dürfen
die apriorischen Ideen der philosophischen Ästhetik die Zirkel eines solchen Forschers
stören. Er nimmt die Aufgabe des Literarhistorikers im allerstrengsten historischen
Sinne, vielleicht strenger noch als Wilhelm Scherer. Spricht Erich Schmidt
über eine literarische Erscheinung, so ist ihm dies niemals, wie sonst allen
Schriftstellern, der Anlaß, eine philosophische Idee, eine Weltanschauung, eine
künstlerische Lehre an seine Besprechung zu knüpfen, sondern das wie? wann?
und warum? des Geschehens geht ihn einzig und allein an. Mit der größten
Peinlichkeit werden allgemeine Wendungen vermieden, und zuweilen scheint es,
als ob der Verfasser für seine Person eigentlich nichts zu sagen hätte, er selbst
verschwindet ganz und gar hinter der Analyse des Gedichtes oder der Charakte¬
ristik der Persönlichkeit oder der verblüffenden Fülle gelehrter Daten, welche
zur Kennzeichnung des historischen Zusammenhanges des Einzelnen mit seiner
Zeit aufmarschiren- Machen diese Gelehrsamkeit und diese unpersönliche Sach-



*) Charakteristiken von Erich Schmidt. Berlin, Weidmannscho Buchhandlung, 1886.
Grenzboten I. 1887. ^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0137" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200242"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> (Lrich Schmidts Charakteristiken.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_391"> achten Erich Schmidt mit einem Werke großen Stils, seiner<lb/>
zu drei Vierteilen vollendeten Lefsiugbiographie, sich seinen Platz<lb/>
in der Wissenschaft gesichert hat, hat er, auch nach der strengern<lb/>
Auffassung der akademischen Kreise, welche nicht gleich gesammelte<lb/>
Feuilletons als ein &#x201E;Buch" gelten lassen wollen, sich das Recht<lb/>
erworben, seine bisher zerstreuten kleinern Schriften vereinigt herauszugeben.<lb/>
Dies ist in dem stattlichen Bande von 500 Großoktav-Seiten geschehen, der<lb/>
unter dem, freilich nicht überall zutreffenden, kurz cmgebundnen Titel &#x201E;Charakte¬<lb/>
ristiken" alle Essays, Studien, Kritiken und Vorträge bringt, welche Erich<lb/>
Schmidt in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hat.") Wird auch dieses Buch<lb/>
vermöge seiner strengen, eine mehr als gewöhnliche literarische Bildung voraus¬<lb/>
setzenden Eigenart schwerlich in breitere Bildungskreise dringen und wohl am<lb/>
wenigsten in die der Frauen, obgleich der Verfasser, welcher das Werk vier<lb/>
Wiener Damen ans einmal gewidmet hat, diese Hoffnung zu hegen scheint, so<lb/>
wird es jedenfalls dazu beitragen, daß die Bedeutung seiner Methode und seines<lb/>
Könnens rückhaltlos anerkannt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_392" next="#ID_393"> Das wichtigste ist, daß sich Erich Schmidt jener großen Strömung in den<lb/>
Wissenschaften anschließt, welche das Ziel hat, daß jede Einzelwissenschaft mög¬<lb/>
lichst auf die eignen Beine gestellt werde, Hilfsmittel, Methoden der Forschung<lb/>
nicht minder als den letzten Zweck derselben nirgends anders als in sich selbst<lb/>
suche und von dem mit der größten Sorgfalt durchackerten Boden der That¬<lb/>
sachen in streng empirischem Fortschritte aufsteige zu jenen allgemeinen Ideen,<lb/>
welche den Schlußstein aller Wissenschaft bilden sollen. Am allerwenigsten dürfen<lb/>
die apriorischen Ideen der philosophischen Ästhetik die Zirkel eines solchen Forschers<lb/>
stören. Er nimmt die Aufgabe des Literarhistorikers im allerstrengsten historischen<lb/>
Sinne, vielleicht strenger noch als Wilhelm Scherer. Spricht Erich Schmidt<lb/>
über eine literarische Erscheinung, so ist ihm dies niemals, wie sonst allen<lb/>
Schriftstellern, der Anlaß, eine philosophische Idee, eine Weltanschauung, eine<lb/>
künstlerische Lehre an seine Besprechung zu knüpfen, sondern das wie? wann?<lb/>
und warum? des Geschehens geht ihn einzig und allein an. Mit der größten<lb/>
Peinlichkeit werden allgemeine Wendungen vermieden, und zuweilen scheint es,<lb/>
als ob der Verfasser für seine Person eigentlich nichts zu sagen hätte, er selbst<lb/>
verschwindet ganz und gar hinter der Analyse des Gedichtes oder der Charakte¬<lb/>
ristik der Persönlichkeit oder der verblüffenden Fülle gelehrter Daten, welche<lb/>
zur Kennzeichnung des historischen Zusammenhanges des Einzelnen mit seiner<lb/>
Zeit aufmarschiren-  Machen diese Gelehrsamkeit und diese unpersönliche Sach-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_18" place="foot"> *) Charakteristiken von Erich Schmidt. Berlin, Weidmannscho Buchhandlung, 1886.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1887. ^</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0137] (Lrich Schmidts Charakteristiken. achten Erich Schmidt mit einem Werke großen Stils, seiner zu drei Vierteilen vollendeten Lefsiugbiographie, sich seinen Platz in der Wissenschaft gesichert hat, hat er, auch nach der strengern Auffassung der akademischen Kreise, welche nicht gleich gesammelte Feuilletons als ein „Buch" gelten lassen wollen, sich das Recht erworben, seine bisher zerstreuten kleinern Schriften vereinigt herauszugeben. Dies ist in dem stattlichen Bande von 500 Großoktav-Seiten geschehen, der unter dem, freilich nicht überall zutreffenden, kurz cmgebundnen Titel „Charakte¬ ristiken" alle Essays, Studien, Kritiken und Vorträge bringt, welche Erich Schmidt in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hat.") Wird auch dieses Buch vermöge seiner strengen, eine mehr als gewöhnliche literarische Bildung voraus¬ setzenden Eigenart schwerlich in breitere Bildungskreise dringen und wohl am wenigsten in die der Frauen, obgleich der Verfasser, welcher das Werk vier Wiener Damen ans einmal gewidmet hat, diese Hoffnung zu hegen scheint, so wird es jedenfalls dazu beitragen, daß die Bedeutung seiner Methode und seines Könnens rückhaltlos anerkannt wird. Das wichtigste ist, daß sich Erich Schmidt jener großen Strömung in den Wissenschaften anschließt, welche das Ziel hat, daß jede Einzelwissenschaft mög¬ lichst auf die eignen Beine gestellt werde, Hilfsmittel, Methoden der Forschung nicht minder als den letzten Zweck derselben nirgends anders als in sich selbst suche und von dem mit der größten Sorgfalt durchackerten Boden der That¬ sachen in streng empirischem Fortschritte aufsteige zu jenen allgemeinen Ideen, welche den Schlußstein aller Wissenschaft bilden sollen. Am allerwenigsten dürfen die apriorischen Ideen der philosophischen Ästhetik die Zirkel eines solchen Forschers stören. Er nimmt die Aufgabe des Literarhistorikers im allerstrengsten historischen Sinne, vielleicht strenger noch als Wilhelm Scherer. Spricht Erich Schmidt über eine literarische Erscheinung, so ist ihm dies niemals, wie sonst allen Schriftstellern, der Anlaß, eine philosophische Idee, eine Weltanschauung, eine künstlerische Lehre an seine Besprechung zu knüpfen, sondern das wie? wann? und warum? des Geschehens geht ihn einzig und allein an. Mit der größten Peinlichkeit werden allgemeine Wendungen vermieden, und zuweilen scheint es, als ob der Verfasser für seine Person eigentlich nichts zu sagen hätte, er selbst verschwindet ganz und gar hinter der Analyse des Gedichtes oder der Charakte¬ ristik der Persönlichkeit oder der verblüffenden Fülle gelehrter Daten, welche zur Kennzeichnung des historischen Zusammenhanges des Einzelnen mit seiner Zeit aufmarschiren- Machen diese Gelehrsamkeit und diese unpersönliche Sach- *) Charakteristiken von Erich Schmidt. Berlin, Weidmannscho Buchhandlung, 1886. Grenzboten I. 1887. ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/137
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/137>, abgerufen am 06.05.2024.