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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr.

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Lrich Schmidts "Lharakteristiken,

lichkeit eine Tugend des Forschers aus, so befremden sie freilich zunächst den
mit dem innern Wesen der Methode noch nuvertrauteu Leser. Denn eine so
weit getriebene Unpersönlichkeit in der Darstellung mutet wie Kälte und Gleich-
giltigkeit des Darstellers gegen seinen Gegenstand an. Die Höhe der Anschauung,
von welcher aus Erich Schmidt seine seinen historischen Fäden auffängt, bringt
nicht jeder Leser gleich mit, und da ihm keine Dialektik zu Hilfe kommt, so hat
der Leser Mühe, mit in die Höhe zu steigen. Die seltene Kunst Erich Schmidts,
konkret zu sprechen und zu charakterisnen, erregt Bewunderung, aber da die
Fülle der einzelnen Beobachtungen nicht immer durch eine ausgesprochene Idee
vereinigt wird, so bleibt dem Leser die Arbeit, sich die Einheit im Bilde der
charcikterisirten Persönlichkeit erst zu schaffen, was ihm nicht immer gelingen
dürfte. Was für ein Reichtum der feinsten ästhetischen Bildung und Einsicht,
der mitdichtcnden poetischen Anschauung in diesen Charakteristiken verstreut ist,
welche Kraft der Unmittelbarkeit in der Apperzeption poetischer Werke diese ge¬
drungene Schreibweise voraussetzt, werden wenig Leser einsehen, da sie meist
gewöhnt sind, ästhetische Urteile erst nach einem schöngeistigen Diskurs zu er¬
fahre". Die ganze historische Methode Erich Schmidts setzt aber eine solche Kraft
der Unmittelbarkeit wie die Befähigung, anzudichten, sich lebhaft in fremde Zu¬
stände zu versetzen, voraus; denn sie will weniger richten, als erklären, sie will
nicht von einem starren ästhetischen Dogma aus die literarischen Erscheinungen
klassifiziren gleich dem Botaniker, der sich ein Herbarium anlegt, sondern ihr
sind sie Dokumente des menschlichen Lebens, und dieses Lebendige in ihnen, die
wirkende Kraft, will als solche erkannt und dargestellt werden. Wer die Ge¬
schichte der Wissenschaft halbwegs überschaut, wird nicht anstehen, zu bekennen,
daß diese Methode Erich Schmidts nicht bloß eine natürliche Konsequenz in
der Entwicklung der Literaturgeschichte sei, in der die Resultate der Philologie
wie der Ästhetik zu einer einheitlichen wissenschaftlichen Anschauung zusammen¬
fließen, sondern er wird auch diese Methode für die gesündeste und fruchtbarste
halten. Denn hier weiß jedermann, woran er ist, er hat es immer mit fa߬
baren Dingen zu thun. Sie verhält sich zu jener der schöngeistigen Enthusiasten,
wie die rechte That zum schwachen Wollen.

Von dem reichen Inhalte des Buches wollen wir nun in aller Kürze eine
Vorstellung geben. Eröffnet wird die Sammlung der "Charakteristiken" dnrch
eine Studie: "Faust und das sechzehnte Jahrhundert." Anknüpfend an eine
Analyse der Widmcmnscheu Fausthistorie werden die Reformation, Luthers
Teufelsglaube, die schillernde Gestalt des Hauptvertreters der medizinischen
Chemie Philippus Theophrastus Paracelsus Aureolus Vombastus von Hohen-
heim, der Humanismus, die ganze Erweiterung des geographischen und wissen¬
schaftlichen Horizonts in jener Zeit als die Hauptquellen der Sagenbildung be¬
zeichnet. Der historische Faust stand tief unter demjenigen, den die Phantasie
schuf. Aber, wird geschloffen: "es zeugt für den Aufschwung und die Ver-


Lrich Schmidts «Lharakteristiken,

lichkeit eine Tugend des Forschers aus, so befremden sie freilich zunächst den
mit dem innern Wesen der Methode noch nuvertrauteu Leser. Denn eine so
weit getriebene Unpersönlichkeit in der Darstellung mutet wie Kälte und Gleich-
giltigkeit des Darstellers gegen seinen Gegenstand an. Die Höhe der Anschauung,
von welcher aus Erich Schmidt seine seinen historischen Fäden auffängt, bringt
nicht jeder Leser gleich mit, und da ihm keine Dialektik zu Hilfe kommt, so hat
der Leser Mühe, mit in die Höhe zu steigen. Die seltene Kunst Erich Schmidts,
konkret zu sprechen und zu charakterisnen, erregt Bewunderung, aber da die
Fülle der einzelnen Beobachtungen nicht immer durch eine ausgesprochene Idee
vereinigt wird, so bleibt dem Leser die Arbeit, sich die Einheit im Bilde der
charcikterisirten Persönlichkeit erst zu schaffen, was ihm nicht immer gelingen
dürfte. Was für ein Reichtum der feinsten ästhetischen Bildung und Einsicht,
der mitdichtcnden poetischen Anschauung in diesen Charakteristiken verstreut ist,
welche Kraft der Unmittelbarkeit in der Apperzeption poetischer Werke diese ge¬
drungene Schreibweise voraussetzt, werden wenig Leser einsehen, da sie meist
gewöhnt sind, ästhetische Urteile erst nach einem schöngeistigen Diskurs zu er¬
fahre«. Die ganze historische Methode Erich Schmidts setzt aber eine solche Kraft
der Unmittelbarkeit wie die Befähigung, anzudichten, sich lebhaft in fremde Zu¬
stände zu versetzen, voraus; denn sie will weniger richten, als erklären, sie will
nicht von einem starren ästhetischen Dogma aus die literarischen Erscheinungen
klassifiziren gleich dem Botaniker, der sich ein Herbarium anlegt, sondern ihr
sind sie Dokumente des menschlichen Lebens, und dieses Lebendige in ihnen, die
wirkende Kraft, will als solche erkannt und dargestellt werden. Wer die Ge¬
schichte der Wissenschaft halbwegs überschaut, wird nicht anstehen, zu bekennen,
daß diese Methode Erich Schmidts nicht bloß eine natürliche Konsequenz in
der Entwicklung der Literaturgeschichte sei, in der die Resultate der Philologie
wie der Ästhetik zu einer einheitlichen wissenschaftlichen Anschauung zusammen¬
fließen, sondern er wird auch diese Methode für die gesündeste und fruchtbarste
halten. Denn hier weiß jedermann, woran er ist, er hat es immer mit fa߬
baren Dingen zu thun. Sie verhält sich zu jener der schöngeistigen Enthusiasten,
wie die rechte That zum schwachen Wollen.

Von dem reichen Inhalte des Buches wollen wir nun in aller Kürze eine
Vorstellung geben. Eröffnet wird die Sammlung der „Charakteristiken" dnrch
eine Studie: „Faust und das sechzehnte Jahrhundert." Anknüpfend an eine
Analyse der Widmcmnscheu Fausthistorie werden die Reformation, Luthers
Teufelsglaube, die schillernde Gestalt des Hauptvertreters der medizinischen
Chemie Philippus Theophrastus Paracelsus Aureolus Vombastus von Hohen-
heim, der Humanismus, die ganze Erweiterung des geographischen und wissen¬
schaftlichen Horizonts in jener Zeit als die Hauptquellen der Sagenbildung be¬
zeichnet. Der historische Faust stand tief unter demjenigen, den die Phantasie
schuf. Aber, wird geschloffen: „es zeugt für den Aufschwung und die Ver-


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[0138] Lrich Schmidts «Lharakteristiken, lichkeit eine Tugend des Forschers aus, so befremden sie freilich zunächst den mit dem innern Wesen der Methode noch nuvertrauteu Leser. Denn eine so weit getriebene Unpersönlichkeit in der Darstellung mutet wie Kälte und Gleich- giltigkeit des Darstellers gegen seinen Gegenstand an. Die Höhe der Anschauung, von welcher aus Erich Schmidt seine seinen historischen Fäden auffängt, bringt nicht jeder Leser gleich mit, und da ihm keine Dialektik zu Hilfe kommt, so hat der Leser Mühe, mit in die Höhe zu steigen. Die seltene Kunst Erich Schmidts, konkret zu sprechen und zu charakterisnen, erregt Bewunderung, aber da die Fülle der einzelnen Beobachtungen nicht immer durch eine ausgesprochene Idee vereinigt wird, so bleibt dem Leser die Arbeit, sich die Einheit im Bilde der charcikterisirten Persönlichkeit erst zu schaffen, was ihm nicht immer gelingen dürfte. Was für ein Reichtum der feinsten ästhetischen Bildung und Einsicht, der mitdichtcnden poetischen Anschauung in diesen Charakteristiken verstreut ist, welche Kraft der Unmittelbarkeit in der Apperzeption poetischer Werke diese ge¬ drungene Schreibweise voraussetzt, werden wenig Leser einsehen, da sie meist gewöhnt sind, ästhetische Urteile erst nach einem schöngeistigen Diskurs zu er¬ fahre«. Die ganze historische Methode Erich Schmidts setzt aber eine solche Kraft der Unmittelbarkeit wie die Befähigung, anzudichten, sich lebhaft in fremde Zu¬ stände zu versetzen, voraus; denn sie will weniger richten, als erklären, sie will nicht von einem starren ästhetischen Dogma aus die literarischen Erscheinungen klassifiziren gleich dem Botaniker, der sich ein Herbarium anlegt, sondern ihr sind sie Dokumente des menschlichen Lebens, und dieses Lebendige in ihnen, die wirkende Kraft, will als solche erkannt und dargestellt werden. Wer die Ge¬ schichte der Wissenschaft halbwegs überschaut, wird nicht anstehen, zu bekennen, daß diese Methode Erich Schmidts nicht bloß eine natürliche Konsequenz in der Entwicklung der Literaturgeschichte sei, in der die Resultate der Philologie wie der Ästhetik zu einer einheitlichen wissenschaftlichen Anschauung zusammen¬ fließen, sondern er wird auch diese Methode für die gesündeste und fruchtbarste halten. Denn hier weiß jedermann, woran er ist, er hat es immer mit fa߬ baren Dingen zu thun. Sie verhält sich zu jener der schöngeistigen Enthusiasten, wie die rechte That zum schwachen Wollen. Von dem reichen Inhalte des Buches wollen wir nun in aller Kürze eine Vorstellung geben. Eröffnet wird die Sammlung der „Charakteristiken" dnrch eine Studie: „Faust und das sechzehnte Jahrhundert." Anknüpfend an eine Analyse der Widmcmnscheu Fausthistorie werden die Reformation, Luthers Teufelsglaube, die schillernde Gestalt des Hauptvertreters der medizinischen Chemie Philippus Theophrastus Paracelsus Aureolus Vombastus von Hohen- heim, der Humanismus, die ganze Erweiterung des geographischen und wissen¬ schaftlichen Horizonts in jener Zeit als die Hauptquellen der Sagenbildung be¬ zeichnet. Der historische Faust stand tief unter demjenigen, den die Phantasie schuf. Aber, wird geschloffen: „es zeugt für den Aufschwung und die Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200104/138>, abgerufen am 28.05.2024.