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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

as Studium der Geschichte und die eigne Lebenserfahrung haben
mich belehrt, daß nicht nur die Münzen zwei Seiten haben, sondern
auch alle andern Dinge, auch die Menschen, ihre Handlungen und
Zustände. Es wird daher gestattet sein, vielleicht nützlich und
und für manchen tröstlich, unsre wirtschaftlichen Zustände anch
einmal auf der Kehrseite, die nicht gerade obenauf liegt, zu betrachten.

Wenn ein ruhiger Beobachter Bücher, Zeitungen und Broschüren liest,
wenn er den Verhandlungen der Parlamente folgt und sonst ein Ohr hat für
die zahlreichen Äußerungen. wie sie von Korporationen, Vereinen und andern
Organen über unsre wirtschaftlichen Zustände ausgehen, so müßte er nach diesen
Quellen die Überzeugung gewinnen, daß wir uns nicht nur in einem Zustande
wirtschaftlichen Stillstandes befänden, sondern geradezu in vollem Rückgange,
er müßte glauben, daß der Volkswohlstand ernstlich bedroht sei, daß sür unsre
Kultur bedenkliche Befürchtungen nicht abzuweisen seien.

Die Arbeiter klagen über Mangel an Arbeitsgelegenheit und ungenügende
Löhne; die Handwerker erkläre", dein Druck der kapitalistischen Produktionsweise
nicht länger widerstehen zu können; die Industriellen leiden an Überproduktion
und ungenügendem Absatz; der Handel ist im Rückgange begriffen und sieht in
den vielen Tausenden seiner Gehilfen, die er nicht zu beschäftigen weiß, ein
neues Proletariat heranwachsen; die große Klasse derjenigen, die sich dem Dienste
des Staates und der Gemeinde widmen, ist bei weitem größer als das Be¬
dürfnis, und auch in diesen Kreisen spricht man von einem entstehenden oder
gar bereits entstandenen Proletariat.

Und nun gar die Landwirtschaft! Sie läßt -- groß und klein -- den
ängstlichsten Notschrei ertönen, sie kann nicht vor der Konkurrenz von Amerika,
Indien und China bestehen, ja die zur Erzielung der Feldfrüchte aufgewendeten
Kosten werdeu nicht mehr durch den Erlös gedeckt; der Bauer geht zu Grunde,
der größere Besitzer verarmt, und weil ja der Staat meist auf der Landwirt¬
schaft beruht, so muß er durchaus und mit allen Mitteln helfen!

Alle diese Klagen werden durch zahlreiche und zuweilen recht anschauliche
Thatsachen belegt und begründet; die Statistik, diese Magd aller Ansichten und
Behauptungen -- denn wer beriefe sich nicht auf sie! -- wird zu Hilfe gerufen,
nicht immer ohne Erfolg, und die vereinigten Stimmen aller klagenden Berufs¬
klassen erschallen so laut und vernehmlich, daß alle, die nicht durch selbstische
Interessen mißleitet sind, daß Wissenschaft, Vereine, Korporationen, Gemeinden
und Staat der verlangten Hilfsleistung sich nicht mehr entziehen können, daß


Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

as Studium der Geschichte und die eigne Lebenserfahrung haben
mich belehrt, daß nicht nur die Münzen zwei Seiten haben, sondern
auch alle andern Dinge, auch die Menschen, ihre Handlungen und
Zustände. Es wird daher gestattet sein, vielleicht nützlich und
und für manchen tröstlich, unsre wirtschaftlichen Zustände anch
einmal auf der Kehrseite, die nicht gerade obenauf liegt, zu betrachten.

Wenn ein ruhiger Beobachter Bücher, Zeitungen und Broschüren liest,
wenn er den Verhandlungen der Parlamente folgt und sonst ein Ohr hat für
die zahlreichen Äußerungen. wie sie von Korporationen, Vereinen und andern
Organen über unsre wirtschaftlichen Zustände ausgehen, so müßte er nach diesen
Quellen die Überzeugung gewinnen, daß wir uns nicht nur in einem Zustande
wirtschaftlichen Stillstandes befänden, sondern geradezu in vollem Rückgange,
er müßte glauben, daß der Volkswohlstand ernstlich bedroht sei, daß sür unsre
Kultur bedenkliche Befürchtungen nicht abzuweisen seien.

Die Arbeiter klagen über Mangel an Arbeitsgelegenheit und ungenügende
Löhne; die Handwerker erkläre», dein Druck der kapitalistischen Produktionsweise
nicht länger widerstehen zu können; die Industriellen leiden an Überproduktion
und ungenügendem Absatz; der Handel ist im Rückgange begriffen und sieht in
den vielen Tausenden seiner Gehilfen, die er nicht zu beschäftigen weiß, ein
neues Proletariat heranwachsen; die große Klasse derjenigen, die sich dem Dienste
des Staates und der Gemeinde widmen, ist bei weitem größer als das Be¬
dürfnis, und auch in diesen Kreisen spricht man von einem entstehenden oder
gar bereits entstandenen Proletariat.

Und nun gar die Landwirtschaft! Sie läßt — groß und klein — den
ängstlichsten Notschrei ertönen, sie kann nicht vor der Konkurrenz von Amerika,
Indien und China bestehen, ja die zur Erzielung der Feldfrüchte aufgewendeten
Kosten werdeu nicht mehr durch den Erlös gedeckt; der Bauer geht zu Grunde,
der größere Besitzer verarmt, und weil ja der Staat meist auf der Landwirt¬
schaft beruht, so muß er durchaus und mit allen Mitteln helfen!

Alle diese Klagen werden durch zahlreiche und zuweilen recht anschauliche
Thatsachen belegt und begründet; die Statistik, diese Magd aller Ansichten und
Behauptungen — denn wer beriefe sich nicht auf sie! — wird zu Hilfe gerufen,
nicht immer ohne Erfolg, und die vereinigten Stimmen aller klagenden Berufs¬
klassen erschallen so laut und vernehmlich, daß alle, die nicht durch selbstische
Interessen mißleitet sind, daß Wissenschaft, Vereine, Korporationen, Gemeinden
und Staat der verlangten Hilfsleistung sich nicht mehr entziehen können, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/13>, abgerufen am 28.04.2024.