Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen,

Nach allem, was ich hier gesagt habe, ist dem Svzialpvlitiker seine Auf¬
gabe dahin zu stellen, daß er, ohne im mindesten die großen Errungenschaften
der Vergangenheit z" verkennen, sich von den gegenwärtigen Leiden eines nur
allzu großen Teiles des Volkes durchginge, daß er die Gefahr gewaltsamer
Erschütterungen des Staats- und Gescllschaftsbestaudes vor Augen habe und
begreife, daß dieselben nicht mit bloßen Zwangs- und Schutzmitteln hintanzu¬
halten sind. Er muß trachten, die Schäden zu heilen, gewissermaßen den sozialen
Körper da wieder einzurenken, wo er durch die krampfhaften Bewegungen der
Vergangenheit verrenkt ist. Er muß sich bewußt sein, daß es uns nicht erspart
bleiben kann, die Konsequenzen aus den vorgegangenen Veränderungen zu ziehen,
auch wenn es noch so schmerzhaft sein sollte. Vor allem systematischen aber
muß aufs ernstlichste gewarnt werden. Denn auch auf diesem Gebiete giebt es
keinen Stein der Weisen. Staat und Gesellschaft sind keine Begriffe, mit denen
man logisch operiren konnte -- dies führt immer zu Gewalt, Krieg, Guillo¬
tine --, sondern Staat und Gesellschaft sind historisch gewordene Gestaltungen,
an welchen ebendeshalb Zufälliges und Inkonsequentes zum innersten Wesen
gehören.

Aus diesem Grnnde dürfen wir nicht erwarten, daß ein großer Mann als
sozialer Heiland auftreten werde, die Gesellschaft von ihren Leiden mit einem
kühnen Griffe zu erlösen. Wer dies Wagnis begeht, wird mir größeres Unheil
und Verwirrung anrichten. Was uns obliegt, ist unablässige, treue, ernste,
selbstlose Arbeit, um die Widersprüche zu beseitigen, daß Armut dem Fortschritt
auf dem Fuße folgt, daß Überproduktion und Massenelend einander gegenüber
stehen, lind um die große Aufgabe zu lösen, die meiner Ansicht nach vor allem
darin besteht, daß wir die Armen konsumtionsfähig machen.




Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.
von Guntram Schultheiß.

on National- oder Volkscharakter zu reden ist so allgemein gäng
und gebe, daß man glauben möchte, es könnten über dessen Inhalt
und Bereich keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Und doch macht die Anwendung desselben mancherlei Schwierig¬
keiten. Denn wenn wir schon die Übertragung des Ausdruckes
Charakter von dem Einzelnen auf die Gemeinschaft eines Volkes ohne weiteres
Bedenken vollziehen und die verschwommene Bedeutung der Volksart oder


Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen,

Nach allem, was ich hier gesagt habe, ist dem Svzialpvlitiker seine Auf¬
gabe dahin zu stellen, daß er, ohne im mindesten die großen Errungenschaften
der Vergangenheit z» verkennen, sich von den gegenwärtigen Leiden eines nur
allzu großen Teiles des Volkes durchginge, daß er die Gefahr gewaltsamer
Erschütterungen des Staats- und Gescllschaftsbestaudes vor Augen habe und
begreife, daß dieselben nicht mit bloßen Zwangs- und Schutzmitteln hintanzu¬
halten sind. Er muß trachten, die Schäden zu heilen, gewissermaßen den sozialen
Körper da wieder einzurenken, wo er durch die krampfhaften Bewegungen der
Vergangenheit verrenkt ist. Er muß sich bewußt sein, daß es uns nicht erspart
bleiben kann, die Konsequenzen aus den vorgegangenen Veränderungen zu ziehen,
auch wenn es noch so schmerzhaft sein sollte. Vor allem systematischen aber
muß aufs ernstlichste gewarnt werden. Denn auch auf diesem Gebiete giebt es
keinen Stein der Weisen. Staat und Gesellschaft sind keine Begriffe, mit denen
man logisch operiren konnte — dies führt immer zu Gewalt, Krieg, Guillo¬
tine —, sondern Staat und Gesellschaft sind historisch gewordene Gestaltungen,
an welchen ebendeshalb Zufälliges und Inkonsequentes zum innersten Wesen
gehören.

Aus diesem Grnnde dürfen wir nicht erwarten, daß ein großer Mann als
sozialer Heiland auftreten werde, die Gesellschaft von ihren Leiden mit einem
kühnen Griffe zu erlösen. Wer dies Wagnis begeht, wird mir größeres Unheil
und Verwirrung anrichten. Was uns obliegt, ist unablässige, treue, ernste,
selbstlose Arbeit, um die Widersprüche zu beseitigen, daß Armut dem Fortschritt
auf dem Fuße folgt, daß Überproduktion und Massenelend einander gegenüber
stehen, lind um die große Aufgabe zu lösen, die meiner Ansicht nach vor allem
darin besteht, daß wir die Armen konsumtionsfähig machen.




Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.
von Guntram Schultheiß.

on National- oder Volkscharakter zu reden ist so allgemein gäng
und gebe, daß man glauben möchte, es könnten über dessen Inhalt
und Bereich keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Und doch macht die Anwendung desselben mancherlei Schwierig¬
keiten. Denn wenn wir schon die Übertragung des Ausdruckes
Charakter von dem Einzelnen auf die Gemeinschaft eines Volkes ohne weiteres
Bedenken vollziehen und die verschwommene Bedeutung der Volksart oder


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0024" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/200803"/>
          <fw type="header" place="top"> Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_70"> Nach allem, was ich hier gesagt habe, ist dem Svzialpvlitiker seine Auf¬<lb/>
gabe dahin zu stellen, daß er, ohne im mindesten die großen Errungenschaften<lb/>
der Vergangenheit z» verkennen, sich von den gegenwärtigen Leiden eines nur<lb/>
allzu großen Teiles des Volkes durchginge, daß er die Gefahr gewaltsamer<lb/>
Erschütterungen des Staats- und Gescllschaftsbestaudes vor Augen habe und<lb/>
begreife, daß dieselben nicht mit bloßen Zwangs- und Schutzmitteln hintanzu¬<lb/>
halten sind. Er muß trachten, die Schäden zu heilen, gewissermaßen den sozialen<lb/>
Körper da wieder einzurenken, wo er durch die krampfhaften Bewegungen der<lb/>
Vergangenheit verrenkt ist. Er muß sich bewußt sein, daß es uns nicht erspart<lb/>
bleiben kann, die Konsequenzen aus den vorgegangenen Veränderungen zu ziehen,<lb/>
auch wenn es noch so schmerzhaft sein sollte. Vor allem systematischen aber<lb/>
muß aufs ernstlichste gewarnt werden. Denn auch auf diesem Gebiete giebt es<lb/>
keinen Stein der Weisen. Staat und Gesellschaft sind keine Begriffe, mit denen<lb/>
man logisch operiren konnte &#x2014; dies führt immer zu Gewalt, Krieg, Guillo¬<lb/>
tine &#x2014;, sondern Staat und Gesellschaft sind historisch gewordene Gestaltungen,<lb/>
an welchen ebendeshalb Zufälliges und Inkonsequentes zum innersten Wesen<lb/>
gehören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_71"> Aus diesem Grnnde dürfen wir nicht erwarten, daß ein großer Mann als<lb/>
sozialer Heiland auftreten werde, die Gesellschaft von ihren Leiden mit einem<lb/>
kühnen Griffe zu erlösen. Wer dies Wagnis begeht, wird mir größeres Unheil<lb/>
und Verwirrung anrichten. Was uns obliegt, ist unablässige, treue, ernste,<lb/>
selbstlose Arbeit, um die Widersprüche zu beseitigen, daß Armut dem Fortschritt<lb/>
auf dem Fuße folgt, daß Überproduktion und Massenelend einander gegenüber<lb/>
stehen, lind um die große Aufgabe zu lösen, die meiner Ansicht nach vor allem<lb/>
darin besteht, daß wir die Armen konsumtionsfähig machen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen.<lb/><note type="byline"> von Guntram Schultheiß.</note></head><lb/>
          <p xml:id="ID_72" next="#ID_73"> on National- oder Volkscharakter zu reden ist so allgemein gäng<lb/>
und gebe, daß man glauben möchte, es könnten über dessen Inhalt<lb/>
und Bereich keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten bestehen.<lb/>
Und doch macht die Anwendung desselben mancherlei Schwierig¬<lb/>
keiten. Denn wenn wir schon die Übertragung des Ausdruckes<lb/>
Charakter von dem Einzelnen auf die Gemeinschaft eines Volkes ohne weiteres<lb/>
Bedenken vollziehen und die verschwommene Bedeutung der Volksart oder</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0024] Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen, Nach allem, was ich hier gesagt habe, ist dem Svzialpvlitiker seine Auf¬ gabe dahin zu stellen, daß er, ohne im mindesten die großen Errungenschaften der Vergangenheit z» verkennen, sich von den gegenwärtigen Leiden eines nur allzu großen Teiles des Volkes durchginge, daß er die Gefahr gewaltsamer Erschütterungen des Staats- und Gescllschaftsbestaudes vor Augen habe und begreife, daß dieselben nicht mit bloßen Zwangs- und Schutzmitteln hintanzu¬ halten sind. Er muß trachten, die Schäden zu heilen, gewissermaßen den sozialen Körper da wieder einzurenken, wo er durch die krampfhaften Bewegungen der Vergangenheit verrenkt ist. Er muß sich bewußt sein, daß es uns nicht erspart bleiben kann, die Konsequenzen aus den vorgegangenen Veränderungen zu ziehen, auch wenn es noch so schmerzhaft sein sollte. Vor allem systematischen aber muß aufs ernstlichste gewarnt werden. Denn auch auf diesem Gebiete giebt es keinen Stein der Weisen. Staat und Gesellschaft sind keine Begriffe, mit denen man logisch operiren konnte — dies führt immer zu Gewalt, Krieg, Guillo¬ tine —, sondern Staat und Gesellschaft sind historisch gewordene Gestaltungen, an welchen ebendeshalb Zufälliges und Inkonsequentes zum innersten Wesen gehören. Aus diesem Grnnde dürfen wir nicht erwarten, daß ein großer Mann als sozialer Heiland auftreten werde, die Gesellschaft von ihren Leiden mit einem kühnen Griffe zu erlösen. Wer dies Wagnis begeht, wird mir größeres Unheil und Verwirrung anrichten. Was uns obliegt, ist unablässige, treue, ernste, selbstlose Arbeit, um die Widersprüche zu beseitigen, daß Armut dem Fortschritt auf dem Fuße folgt, daß Überproduktion und Massenelend einander gegenüber stehen, lind um die große Aufgabe zu lösen, die meiner Ansicht nach vor allem darin besteht, daß wir die Armen konsumtionsfähig machen. Der deutsche Volkscharakter und seine Wandlungen. von Guntram Schultheiß. on National- oder Volkscharakter zu reden ist so allgemein gäng und gebe, daß man glauben möchte, es könnten über dessen Inhalt und Bereich keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten bestehen. Und doch macht die Anwendung desselben mancherlei Schwierig¬ keiten. Denn wenn wir schon die Übertragung des Ausdruckes Charakter von dem Einzelnen auf die Gemeinschaft eines Volkes ohne weiteres Bedenken vollziehen und die verschwommene Bedeutung der Volksart oder

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/24
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/24>, abgerufen am 29.04.2024.