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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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die neue Verbindungen einzugehen suchen, aber noch nicht gefunden huben --
kurz, wir leben in einer Übergangsperiode, groß und tief, und man kann -- ge¬
schichtlich betrachtet -- sagen, plötzlich eingetreten, wie niemals eine andre zuvor.
In derselben Zeit hat sich die Bevölkerung Europas mehr als verdoppelt, sie
hat um 200 Millionen Menschen zugenommen.

Ist es unter solchen Umständen zu verwundern, daß nicht alles in Ordnung
ist, daß die Menschen leidenschaftlich erregt sind, daß kaum irgend einer mit
seiner Lage zufrieden ist, daß die große Flut, in der wir uns befinden, hier
ungeheure Reichtümer, dort Massenelend auf einer Stelle angehäuft hat, daß
jene, welche das Glück an eine günstige Stelle gestellt hat, diese mit Eifer ver¬
teidigen, daß andre, denen die Flut über das Haupt zu gehen droht, laute
Klage erheben und alles für erlaubt halten, was ihnen Rettung zu bringen
scheint, daß sie ans jede Lockung hören, die ihnen goldne Berge verspricht?
Dies alles ist wahrlich nicht zu verwundern. Wunderbar im Gegenteil wäre
es, wenn jene ungeheure Umgestaltung des Wirtschaftslebens im letzten Jahr¬
hundert nicht auch außerordentliche Störungen neben ihren segensreichen Wir¬
kungen hervorgebracht hätte. Es wäre wunderbar, wenn es nicht längere Zeit
erforderte, diese Störungen zu beseitigen, und die Konsequenzen der Neuerungen
zu ziehen, welche jetzt noch ungeordnet und ohne Zusammenhang neben einander
liegen. Unsre Aufgabe ist, eine neue soziale Ordnung zu schaffen, welche den
neuen Zuständen entsprechen wird.

Es ist kaum anzunehmen, daß die nächsten sechzig oder hundert Jahre uns
ebenso gewaltige Umwälzungen in der Gütererzeugung bringen werden, wie das
vergangene Zeitalter des Dampfes, der Maschinen, der Eisenbahnen und Tele¬
graphen, aber es ist gewiß, daß wir mit der Einordnung der jüngsten Er¬
rungenschaften in das Gefüge der Gesellschaft vollauf zu thun haben werden;
es ist gewiß, daß wir, um dieser Aufgabe zu genügen, mit vielen Vorurteilen
werden brechen müssen, daß Ansichten und Überzeugungen, die durch ein hohes
Alter geheiligt erscheinen, aufzugeben sind, und daß bei dieser Arbeit Jrrgänge
und Störungen des Friedens nicht vermieden werden können. Die nächste
Zukunft hat das Material zu verarbeiten, welches die jüngste Vergangenheit
in ungeordneten Haufen hinterlassen hat. Unsre Kinder werden sich dieser Auf¬
gabe nicht entziehen können und, wie es deu erfreulichen Anschein hat, auch nicht
entziehen wollen. Aber kämpfen werden sie müssen, und zwar ebenso gegen
eigne als gegen fremde Vorurteile, Befangenheiten, Leidenschaften, selbstsüchtige
Regungen.

Und wenn diese Kämpfe ausgekämpft sind -- was dann? Auch aldann
wird kein paradiesischer Zustand herrschen, auch dann wird es Not lind Elend
die Fülle geben, aber die Menschheit wird sich bewußt sein, einen gewaltigen
Fortschritt nach ihrem Ziele gemacht zu haben, welches Vervollkommnung, nicht
Vollkommenheit ist.


die neue Verbindungen einzugehen suchen, aber noch nicht gefunden huben —
kurz, wir leben in einer Übergangsperiode, groß und tief, und man kann — ge¬
schichtlich betrachtet — sagen, plötzlich eingetreten, wie niemals eine andre zuvor.
In derselben Zeit hat sich die Bevölkerung Europas mehr als verdoppelt, sie
hat um 200 Millionen Menschen zugenommen.

Ist es unter solchen Umständen zu verwundern, daß nicht alles in Ordnung
ist, daß die Menschen leidenschaftlich erregt sind, daß kaum irgend einer mit
seiner Lage zufrieden ist, daß die große Flut, in der wir uns befinden, hier
ungeheure Reichtümer, dort Massenelend auf einer Stelle angehäuft hat, daß
jene, welche das Glück an eine günstige Stelle gestellt hat, diese mit Eifer ver¬
teidigen, daß andre, denen die Flut über das Haupt zu gehen droht, laute
Klage erheben und alles für erlaubt halten, was ihnen Rettung zu bringen
scheint, daß sie ans jede Lockung hören, die ihnen goldne Berge verspricht?
Dies alles ist wahrlich nicht zu verwundern. Wunderbar im Gegenteil wäre
es, wenn jene ungeheure Umgestaltung des Wirtschaftslebens im letzten Jahr¬
hundert nicht auch außerordentliche Störungen neben ihren segensreichen Wir¬
kungen hervorgebracht hätte. Es wäre wunderbar, wenn es nicht längere Zeit
erforderte, diese Störungen zu beseitigen, und die Konsequenzen der Neuerungen
zu ziehen, welche jetzt noch ungeordnet und ohne Zusammenhang neben einander
liegen. Unsre Aufgabe ist, eine neue soziale Ordnung zu schaffen, welche den
neuen Zuständen entsprechen wird.

Es ist kaum anzunehmen, daß die nächsten sechzig oder hundert Jahre uns
ebenso gewaltige Umwälzungen in der Gütererzeugung bringen werden, wie das
vergangene Zeitalter des Dampfes, der Maschinen, der Eisenbahnen und Tele¬
graphen, aber es ist gewiß, daß wir mit der Einordnung der jüngsten Er¬
rungenschaften in das Gefüge der Gesellschaft vollauf zu thun haben werden;
es ist gewiß, daß wir, um dieser Aufgabe zu genügen, mit vielen Vorurteilen
werden brechen müssen, daß Ansichten und Überzeugungen, die durch ein hohes
Alter geheiligt erscheinen, aufzugeben sind, und daß bei dieser Arbeit Jrrgänge
und Störungen des Friedens nicht vermieden werden können. Die nächste
Zukunft hat das Material zu verarbeiten, welches die jüngste Vergangenheit
in ungeordneten Haufen hinterlassen hat. Unsre Kinder werden sich dieser Auf¬
gabe nicht entziehen können und, wie es deu erfreulichen Anschein hat, auch nicht
entziehen wollen. Aber kämpfen werden sie müssen, und zwar ebenso gegen
eigne als gegen fremde Vorurteile, Befangenheiten, Leidenschaften, selbstsüchtige
Regungen.

Und wenn diese Kämpfe ausgekämpft sind — was dann? Auch aldann
wird kein paradiesischer Zustand herrschen, auch dann wird es Not lind Elend
die Fülle geben, aber die Menschheit wird sich bewußt sein, einen gewaltigen
Fortschritt nach ihrem Ziele gemacht zu haben, welches Vervollkommnung, nicht
Vollkommenheit ist.


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[0023] die neue Verbindungen einzugehen suchen, aber noch nicht gefunden huben — kurz, wir leben in einer Übergangsperiode, groß und tief, und man kann — ge¬ schichtlich betrachtet — sagen, plötzlich eingetreten, wie niemals eine andre zuvor. In derselben Zeit hat sich die Bevölkerung Europas mehr als verdoppelt, sie hat um 200 Millionen Menschen zugenommen. Ist es unter solchen Umständen zu verwundern, daß nicht alles in Ordnung ist, daß die Menschen leidenschaftlich erregt sind, daß kaum irgend einer mit seiner Lage zufrieden ist, daß die große Flut, in der wir uns befinden, hier ungeheure Reichtümer, dort Massenelend auf einer Stelle angehäuft hat, daß jene, welche das Glück an eine günstige Stelle gestellt hat, diese mit Eifer ver¬ teidigen, daß andre, denen die Flut über das Haupt zu gehen droht, laute Klage erheben und alles für erlaubt halten, was ihnen Rettung zu bringen scheint, daß sie ans jede Lockung hören, die ihnen goldne Berge verspricht? Dies alles ist wahrlich nicht zu verwundern. Wunderbar im Gegenteil wäre es, wenn jene ungeheure Umgestaltung des Wirtschaftslebens im letzten Jahr¬ hundert nicht auch außerordentliche Störungen neben ihren segensreichen Wir¬ kungen hervorgebracht hätte. Es wäre wunderbar, wenn es nicht längere Zeit erforderte, diese Störungen zu beseitigen, und die Konsequenzen der Neuerungen zu ziehen, welche jetzt noch ungeordnet und ohne Zusammenhang neben einander liegen. Unsre Aufgabe ist, eine neue soziale Ordnung zu schaffen, welche den neuen Zuständen entsprechen wird. Es ist kaum anzunehmen, daß die nächsten sechzig oder hundert Jahre uns ebenso gewaltige Umwälzungen in der Gütererzeugung bringen werden, wie das vergangene Zeitalter des Dampfes, der Maschinen, der Eisenbahnen und Tele¬ graphen, aber es ist gewiß, daß wir mit der Einordnung der jüngsten Er¬ rungenschaften in das Gefüge der Gesellschaft vollauf zu thun haben werden; es ist gewiß, daß wir, um dieser Aufgabe zu genügen, mit vielen Vorurteilen werden brechen müssen, daß Ansichten und Überzeugungen, die durch ein hohes Alter geheiligt erscheinen, aufzugeben sind, und daß bei dieser Arbeit Jrrgänge und Störungen des Friedens nicht vermieden werden können. Die nächste Zukunft hat das Material zu verarbeiten, welches die jüngste Vergangenheit in ungeordneten Haufen hinterlassen hat. Unsre Kinder werden sich dieser Auf¬ gabe nicht entziehen können und, wie es deu erfreulichen Anschein hat, auch nicht entziehen wollen. Aber kämpfen werden sie müssen, und zwar ebenso gegen eigne als gegen fremde Vorurteile, Befangenheiten, Leidenschaften, selbstsüchtige Regungen. Und wenn diese Kämpfe ausgekämpft sind — was dann? Auch aldann wird kein paradiesischer Zustand herrschen, auch dann wird es Not lind Elend die Fülle geben, aber die Menschheit wird sich bewußt sein, einen gewaltigen Fortschritt nach ihrem Ziele gemacht zu haben, welches Vervollkommnung, nicht Vollkommenheit ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/23>, abgerufen am 14.05.2024.