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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Anfange einer schönen Pleine zwischen Bergen, die alle noch Kalk sind u. s. w."
In den Briefen lesen wir: "Wieder in einer Höhle sitzend, die vor einem Jahre
vom Erdbeben gelitten, wende ich mein Gebet zu dir, mein lieber Schutzgeist.
Wie verwöhnt ich bin, fühle ich erst jetzt, zehn Jahre mit dir zu leben, von
dir geliebt zu sein und nun in einer fremden Welt. Ich sagte mirs voraus,
und nur die höchste Notwendigkeit konnte mich zwingen, den Entschluß zu fassen.
Laß uns keinen andern Gedanken haben, als unser Leben miteinander zu en¬
digen." Hierauf folgt die Beschreibung der Lage von Temi, die er nur wenig
verändert drucken ließ. Daß er selbst in so bewegter Stimmung klar und rein
zu sehen vermochte, daß ihm die sichere Hand niemals versagte, das Geschaute
darzustellen, hat zu dem Mythus von Goethes Kälte geführt; als lebten wir
tausend Jahre von ihm entfernt, als wäre jede Kunde verschollen von seinem
reichen Herzen, das immer voll und offen war.

Wie einst Sterne, so reiste auch Goethe mit seinem Herzen, nur daß
Menschenherzen so verschiede" sind wie Menschengesichter. Nicht neben seiner
Liebe besteht seine Objektivität, sondern sie wird recht eigentlich genährt durch
das, was heimlich in ihm ist. Auf dem Grunde eines klaren Bergsees sprudeln
Quellen, langsam wachsen in ihm vielfach verschlungene Pflanzen, und von der
verschlossenen Muschel bis zu dem flüchtigen Fische hegt er ein Reich bunt¬
bewegten Lebens. Die stille Oberfläche aber spiegelt, was ihn umsteht und um¬
drängt, Felsen, Wiesen und Wald, und was über ihm wandelt, die Sonne bei
Tage, und zur Nachtzeit den Mond und Sterne.




2.

Worin bestand nun jene höchste Notwendigkeit, die ihn zwang, sich von
seiner Liebe loszureißen? Er hat sich oft darüber ausgesprochen, nicht nur an
die Freundin, auch an Herder und an den Herzog. Ja wie seine reine Seele
keinen Unterschied kennt zwischen hoch und gering, wenn er einmal schätzen und
lieben gelernt hat, fühlt er es als eine Pflicht, sich auch gegen den Diener zu
erklären, den er zurückgelassen, gegen ein Kind, das er mit liebender Sorgfalt
erzogen hat. Seine Gründe hat er nie einfacher ausgesprochen als in jenem
Briefe an Fritz Stein: "Mache dir keine traurige Vorstellung von meinem
Außenbleiben. Es war mir höchst nötig, daß ich wieder eine Masse von Kennt¬
nissen, von neuen Begriffen mir eigen machte, an denen ich wieder eine Weile
verdauen kann. Es wird mir und all den Meinen zu Gute kommen."

Er hatte sich erschöpft, im Geschäftsleben verloren, nicht zum wenigsten
vielleicht in den jahrelang währenden Mitteilungen an Charlotte. Er bedarf
neuer Eindrücke, wenn er seine Gestaltungskraft nicht verlieren soll, als Künstler
fühlt er sich bedroht. Kein äußerer Zweck treibt ihn, nicht bestimmte Studien,
nicht einmal die Absicht, sich in den bildenden Künsten zu vervollkommnen, für


Grenzboten III. 1837. 42

Anfange einer schönen Pleine zwischen Bergen, die alle noch Kalk sind u. s. w."
In den Briefen lesen wir: „Wieder in einer Höhle sitzend, die vor einem Jahre
vom Erdbeben gelitten, wende ich mein Gebet zu dir, mein lieber Schutzgeist.
Wie verwöhnt ich bin, fühle ich erst jetzt, zehn Jahre mit dir zu leben, von
dir geliebt zu sein und nun in einer fremden Welt. Ich sagte mirs voraus,
und nur die höchste Notwendigkeit konnte mich zwingen, den Entschluß zu fassen.
Laß uns keinen andern Gedanken haben, als unser Leben miteinander zu en¬
digen." Hierauf folgt die Beschreibung der Lage von Temi, die er nur wenig
verändert drucken ließ. Daß er selbst in so bewegter Stimmung klar und rein
zu sehen vermochte, daß ihm die sichere Hand niemals versagte, das Geschaute
darzustellen, hat zu dem Mythus von Goethes Kälte geführt; als lebten wir
tausend Jahre von ihm entfernt, als wäre jede Kunde verschollen von seinem
reichen Herzen, das immer voll und offen war.

Wie einst Sterne, so reiste auch Goethe mit seinem Herzen, nur daß
Menschenherzen so verschiede» sind wie Menschengesichter. Nicht neben seiner
Liebe besteht seine Objektivität, sondern sie wird recht eigentlich genährt durch
das, was heimlich in ihm ist. Auf dem Grunde eines klaren Bergsees sprudeln
Quellen, langsam wachsen in ihm vielfach verschlungene Pflanzen, und von der
verschlossenen Muschel bis zu dem flüchtigen Fische hegt er ein Reich bunt¬
bewegten Lebens. Die stille Oberfläche aber spiegelt, was ihn umsteht und um¬
drängt, Felsen, Wiesen und Wald, und was über ihm wandelt, die Sonne bei
Tage, und zur Nachtzeit den Mond und Sterne.




2.

Worin bestand nun jene höchste Notwendigkeit, die ihn zwang, sich von
seiner Liebe loszureißen? Er hat sich oft darüber ausgesprochen, nicht nur an
die Freundin, auch an Herder und an den Herzog. Ja wie seine reine Seele
keinen Unterschied kennt zwischen hoch und gering, wenn er einmal schätzen und
lieben gelernt hat, fühlt er es als eine Pflicht, sich auch gegen den Diener zu
erklären, den er zurückgelassen, gegen ein Kind, das er mit liebender Sorgfalt
erzogen hat. Seine Gründe hat er nie einfacher ausgesprochen als in jenem
Briefe an Fritz Stein: „Mache dir keine traurige Vorstellung von meinem
Außenbleiben. Es war mir höchst nötig, daß ich wieder eine Masse von Kennt¬
nissen, von neuen Begriffen mir eigen machte, an denen ich wieder eine Weile
verdauen kann. Es wird mir und all den Meinen zu Gute kommen."

Er hatte sich erschöpft, im Geschäftsleben verloren, nicht zum wenigsten
vielleicht in den jahrelang währenden Mitteilungen an Charlotte. Er bedarf
neuer Eindrücke, wenn er seine Gestaltungskraft nicht verlieren soll, als Künstler
fühlt er sich bedroht. Kein äußerer Zweck treibt ihn, nicht bestimmte Studien,
nicht einmal die Absicht, sich in den bildenden Künsten zu vervollkommnen, für


Grenzboten III. 1837. 42
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[0337] Anfange einer schönen Pleine zwischen Bergen, die alle noch Kalk sind u. s. w." In den Briefen lesen wir: „Wieder in einer Höhle sitzend, die vor einem Jahre vom Erdbeben gelitten, wende ich mein Gebet zu dir, mein lieber Schutzgeist. Wie verwöhnt ich bin, fühle ich erst jetzt, zehn Jahre mit dir zu leben, von dir geliebt zu sein und nun in einer fremden Welt. Ich sagte mirs voraus, und nur die höchste Notwendigkeit konnte mich zwingen, den Entschluß zu fassen. Laß uns keinen andern Gedanken haben, als unser Leben miteinander zu en¬ digen." Hierauf folgt die Beschreibung der Lage von Temi, die er nur wenig verändert drucken ließ. Daß er selbst in so bewegter Stimmung klar und rein zu sehen vermochte, daß ihm die sichere Hand niemals versagte, das Geschaute darzustellen, hat zu dem Mythus von Goethes Kälte geführt; als lebten wir tausend Jahre von ihm entfernt, als wäre jede Kunde verschollen von seinem reichen Herzen, das immer voll und offen war. Wie einst Sterne, so reiste auch Goethe mit seinem Herzen, nur daß Menschenherzen so verschiede» sind wie Menschengesichter. Nicht neben seiner Liebe besteht seine Objektivität, sondern sie wird recht eigentlich genährt durch das, was heimlich in ihm ist. Auf dem Grunde eines klaren Bergsees sprudeln Quellen, langsam wachsen in ihm vielfach verschlungene Pflanzen, und von der verschlossenen Muschel bis zu dem flüchtigen Fische hegt er ein Reich bunt¬ bewegten Lebens. Die stille Oberfläche aber spiegelt, was ihn umsteht und um¬ drängt, Felsen, Wiesen und Wald, und was über ihm wandelt, die Sonne bei Tage, und zur Nachtzeit den Mond und Sterne. 2. Worin bestand nun jene höchste Notwendigkeit, die ihn zwang, sich von seiner Liebe loszureißen? Er hat sich oft darüber ausgesprochen, nicht nur an die Freundin, auch an Herder und an den Herzog. Ja wie seine reine Seele keinen Unterschied kennt zwischen hoch und gering, wenn er einmal schätzen und lieben gelernt hat, fühlt er es als eine Pflicht, sich auch gegen den Diener zu erklären, den er zurückgelassen, gegen ein Kind, das er mit liebender Sorgfalt erzogen hat. Seine Gründe hat er nie einfacher ausgesprochen als in jenem Briefe an Fritz Stein: „Mache dir keine traurige Vorstellung von meinem Außenbleiben. Es war mir höchst nötig, daß ich wieder eine Masse von Kennt¬ nissen, von neuen Begriffen mir eigen machte, an denen ich wieder eine Weile verdauen kann. Es wird mir und all den Meinen zu Gute kommen." Er hatte sich erschöpft, im Geschäftsleben verloren, nicht zum wenigsten vielleicht in den jahrelang währenden Mitteilungen an Charlotte. Er bedarf neuer Eindrücke, wenn er seine Gestaltungskraft nicht verlieren soll, als Künstler fühlt er sich bedroht. Kein äußerer Zweck treibt ihn, nicht bestimmte Studien, nicht einmal die Absicht, sich in den bildenden Künsten zu vervollkommnen, für Grenzboten III. 1837. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/337>, abgerufen am 29.04.2024.