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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Goethes Briefe aus Italien,

Andres lehren uns die neu bekannt gewordenen Briefe, die er regelmäßig
an jedem Posttage an Frau von Stein sandte, während er daneben, wenigstens
bis zur Ankunft in Rom, ein an sie gerichtetes Tagebuch führte. Es steht
alles darin, was wir in der italienischen Reise lesen, aber in wie anderen Lichte
erscheint es! Was er sieht, was er erlebt, sieht er, erlebt er nur für die ge¬
liebte Frau; nicht wie ein Gegensatz zu den Briefen an Charlotte während der
letzten Jahre, sondern wie eine höchste Steigerung alles dessen, was wir dort
mit Anteil und Bewunderung lesen. Waren in den früheren Briefen nur die
zärtlichen, die sehnsuchtsvoll bekümmerten Töne angeschlagen, so bricht nun in
den Briefen aus Italien wie mit Naturgewalt hervor, was früher der leiden¬
schaftlichen Rede und Gegenrede aufgespart war. Sein erstes ist, als er endlich
in das so lange ersehnte Rom kommt, an sie zu schreiben; an sie ist auch wieder
sein letztes Wort gerichtet, ehe er die Stadt verläßt. In dem vollen Bewußt¬
sein, die wichtigste Periode seines Lebens abgeschlossen zu haben, sucht er in
einem tief ergreifenden Briefe die ganze Summe seines Verhältnisses zu ihr zu
ziehen. Ein Vorwurf von ihr über seine geheime Abreise reißt ihn aus seiner
ganzen Thätigkeit, und mit rührenden Worten fleht er sie an: "Erleichtere mir
meine Rückkehr zu dir, damit ich nicht in der weiten Welt verbannt bleibe, sieh
mich nicht von dir geschieden an, nichts auf der Welt könnte mir ersetzen, was
ich in dir verlöre." Aber nicht nur in solchen Augenblicken, wo in Schmerz und
Liebe seine große Seele hervorbricht, jeden Tag und jede Stunde gedenkt er ihrer.
Das Tagebuch wollte er erst schreiben, daß es mitteilsam wäre, daß sich auch die
andern Freunde daran erfreuen könnten; "es ging aber nicht -- sagt er --, es
ist allein für dich." Im großen und im kleinen gewinnt die Darstellung ein
neues Interesse. Bei der Erklärung der italienischen Uhr z. B. heißt es in der
gedruckten Reise mit etwas gezwungener Wendung: "Um mich ferner in einem
wichtigen Punkte der Landesgewohnheit gleich zu stellen, habe ich mir ein
Hilfsmittel erdacht, wie ich ihre Stundeneinteilung mir leichter zueignen möchte."
Jetzt lesen wir die einfachen Worte: "Damit dir die italienische Uhr leichter be¬
greiflich werde, habe ich gegenüberstehendes Bild erdacht." Sie soll die be¬
ständige Teilnehmerin sein an allem, was er gewinnt, mit ihm soll sie
reicher werden, unerschöpflich ist er in der Wiederholung, daß alles nur für
sie bestimmt ist. "Wozu sähe ich das alles, wenn ich es dir nicht mitteilen
könnte" -- "Behalte es aber für dich, wie es nur für dich geschrieben ist."

Vielleicht ist keine Stelle für den Unterschied des gedruckten Buches und
der Briefe, aus denen es entstanden ist, bezeichnender, als das Blatt vom
27. Oktober 1786 aus Temi. das aus einer Abschrift der Frau von Stein
schon früher bekannt geworden war, ohne daß man seine Wichtigkeit erkannt
hätte. In der italienischen Reise heißt es: "Wieder in einer Höhle sitzend, die
vor einem Jahre vom Erdbeben gelitten; das Städtchen liegt in einer köstlichen
Gegend, die ich auf einem Rundgänge um dasselbe mit Freuden beschaute, am


Goethes Briefe aus Italien,

Andres lehren uns die neu bekannt gewordenen Briefe, die er regelmäßig
an jedem Posttage an Frau von Stein sandte, während er daneben, wenigstens
bis zur Ankunft in Rom, ein an sie gerichtetes Tagebuch führte. Es steht
alles darin, was wir in der italienischen Reise lesen, aber in wie anderen Lichte
erscheint es! Was er sieht, was er erlebt, sieht er, erlebt er nur für die ge¬
liebte Frau; nicht wie ein Gegensatz zu den Briefen an Charlotte während der
letzten Jahre, sondern wie eine höchste Steigerung alles dessen, was wir dort
mit Anteil und Bewunderung lesen. Waren in den früheren Briefen nur die
zärtlichen, die sehnsuchtsvoll bekümmerten Töne angeschlagen, so bricht nun in
den Briefen aus Italien wie mit Naturgewalt hervor, was früher der leiden¬
schaftlichen Rede und Gegenrede aufgespart war. Sein erstes ist, als er endlich
in das so lange ersehnte Rom kommt, an sie zu schreiben; an sie ist auch wieder
sein letztes Wort gerichtet, ehe er die Stadt verläßt. In dem vollen Bewußt¬
sein, die wichtigste Periode seines Lebens abgeschlossen zu haben, sucht er in
einem tief ergreifenden Briefe die ganze Summe seines Verhältnisses zu ihr zu
ziehen. Ein Vorwurf von ihr über seine geheime Abreise reißt ihn aus seiner
ganzen Thätigkeit, und mit rührenden Worten fleht er sie an: „Erleichtere mir
meine Rückkehr zu dir, damit ich nicht in der weiten Welt verbannt bleibe, sieh
mich nicht von dir geschieden an, nichts auf der Welt könnte mir ersetzen, was
ich in dir verlöre." Aber nicht nur in solchen Augenblicken, wo in Schmerz und
Liebe seine große Seele hervorbricht, jeden Tag und jede Stunde gedenkt er ihrer.
Das Tagebuch wollte er erst schreiben, daß es mitteilsam wäre, daß sich auch die
andern Freunde daran erfreuen könnten; „es ging aber nicht — sagt er —, es
ist allein für dich." Im großen und im kleinen gewinnt die Darstellung ein
neues Interesse. Bei der Erklärung der italienischen Uhr z. B. heißt es in der
gedruckten Reise mit etwas gezwungener Wendung: „Um mich ferner in einem
wichtigen Punkte der Landesgewohnheit gleich zu stellen, habe ich mir ein
Hilfsmittel erdacht, wie ich ihre Stundeneinteilung mir leichter zueignen möchte."
Jetzt lesen wir die einfachen Worte: „Damit dir die italienische Uhr leichter be¬
greiflich werde, habe ich gegenüberstehendes Bild erdacht." Sie soll die be¬
ständige Teilnehmerin sein an allem, was er gewinnt, mit ihm soll sie
reicher werden, unerschöpflich ist er in der Wiederholung, daß alles nur für
sie bestimmt ist. „Wozu sähe ich das alles, wenn ich es dir nicht mitteilen
könnte" — „Behalte es aber für dich, wie es nur für dich geschrieben ist."

Vielleicht ist keine Stelle für den Unterschied des gedruckten Buches und
der Briefe, aus denen es entstanden ist, bezeichnender, als das Blatt vom
27. Oktober 1786 aus Temi. das aus einer Abschrift der Frau von Stein
schon früher bekannt geworden war, ohne daß man seine Wichtigkeit erkannt
hätte. In der italienischen Reise heißt es: „Wieder in einer Höhle sitzend, die
vor einem Jahre vom Erdbeben gelitten; das Städtchen liegt in einer köstlichen
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[0336] Goethes Briefe aus Italien, Andres lehren uns die neu bekannt gewordenen Briefe, die er regelmäßig an jedem Posttage an Frau von Stein sandte, während er daneben, wenigstens bis zur Ankunft in Rom, ein an sie gerichtetes Tagebuch führte. Es steht alles darin, was wir in der italienischen Reise lesen, aber in wie anderen Lichte erscheint es! Was er sieht, was er erlebt, sieht er, erlebt er nur für die ge¬ liebte Frau; nicht wie ein Gegensatz zu den Briefen an Charlotte während der letzten Jahre, sondern wie eine höchste Steigerung alles dessen, was wir dort mit Anteil und Bewunderung lesen. Waren in den früheren Briefen nur die zärtlichen, die sehnsuchtsvoll bekümmerten Töne angeschlagen, so bricht nun in den Briefen aus Italien wie mit Naturgewalt hervor, was früher der leiden¬ schaftlichen Rede und Gegenrede aufgespart war. Sein erstes ist, als er endlich in das so lange ersehnte Rom kommt, an sie zu schreiben; an sie ist auch wieder sein letztes Wort gerichtet, ehe er die Stadt verläßt. In dem vollen Bewußt¬ sein, die wichtigste Periode seines Lebens abgeschlossen zu haben, sucht er in einem tief ergreifenden Briefe die ganze Summe seines Verhältnisses zu ihr zu ziehen. Ein Vorwurf von ihr über seine geheime Abreise reißt ihn aus seiner ganzen Thätigkeit, und mit rührenden Worten fleht er sie an: „Erleichtere mir meine Rückkehr zu dir, damit ich nicht in der weiten Welt verbannt bleibe, sieh mich nicht von dir geschieden an, nichts auf der Welt könnte mir ersetzen, was ich in dir verlöre." Aber nicht nur in solchen Augenblicken, wo in Schmerz und Liebe seine große Seele hervorbricht, jeden Tag und jede Stunde gedenkt er ihrer. Das Tagebuch wollte er erst schreiben, daß es mitteilsam wäre, daß sich auch die andern Freunde daran erfreuen könnten; „es ging aber nicht — sagt er —, es ist allein für dich." Im großen und im kleinen gewinnt die Darstellung ein neues Interesse. Bei der Erklärung der italienischen Uhr z. B. heißt es in der gedruckten Reise mit etwas gezwungener Wendung: „Um mich ferner in einem wichtigen Punkte der Landesgewohnheit gleich zu stellen, habe ich mir ein Hilfsmittel erdacht, wie ich ihre Stundeneinteilung mir leichter zueignen möchte." Jetzt lesen wir die einfachen Worte: „Damit dir die italienische Uhr leichter be¬ greiflich werde, habe ich gegenüberstehendes Bild erdacht." Sie soll die be¬ ständige Teilnehmerin sein an allem, was er gewinnt, mit ihm soll sie reicher werden, unerschöpflich ist er in der Wiederholung, daß alles nur für sie bestimmt ist. „Wozu sähe ich das alles, wenn ich es dir nicht mitteilen könnte" — „Behalte es aber für dich, wie es nur für dich geschrieben ist." Vielleicht ist keine Stelle für den Unterschied des gedruckten Buches und der Briefe, aus denen es entstanden ist, bezeichnender, als das Blatt vom 27. Oktober 1786 aus Temi. das aus einer Abschrift der Frau von Stein schon früher bekannt geworden war, ohne daß man seine Wichtigkeit erkannt hätte. In der italienischen Reise heißt es: „Wieder in einer Höhle sitzend, die vor einem Jahre vom Erdbeben gelitten; das Städtchen liegt in einer köstlichen Gegend, die ich auf einem Rundgänge um dasselbe mit Freuden beschaute, am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/336>, abgerufen am 14.05.2024.