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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Ranke als Tagespolitiker.

icht jeder berühmte Gelehrte ist "populär," d. h. der großen
Masse bekannt; ja nach den Beispielen, die wir selbst erleben, kann
man sogar behaupten, daß die "Popularität" eines Gelehrten
meistens mit seiner Wissenschaft nicht zusammenhängt und daß
die Wissenschaft durch die Popularität nicht selten leidet. In den
Tagen des Göttinger Uuiversitätsjubiläums ist von Professor Weber weniger
als Erfinder des Telegraphen, mehr als gesinnungstreuen Staatsmann gesprochen
worden, der zu den sieben von Ernst August wegen ihrer Verfassungstreue ge-
maßregelten Göttinger Dozenten gehörte. Chevreuil ist in Frankreich erst po¬
pulär geworden, als man sein hundertjähriges Geburtstngsfest zu einer öffent¬
lichen Feier benutzte. Dem Berliner Fortschrittswühler ist Virchow nicht sowohl
wegen seiner Cellularpathologie als wegen seiner Phrasen und Tiraden auf Ti-
voli und im Parlament der berühmte Gelehrte, und sein Hauptverdienst wird
vou der gedankenlosen großen Menge nach den Reden geschätzt, die er gegen
den Reichskanzler gehalten hat; selbst die vielen nicht eingetroffenen Prophe¬
zeiungen auf dem ihm fremden Gebiete der hohen Politik sind nicht imstande
gewesen, seine Berühmtheit als Staatsmann in den Augen der Fortschritts¬
wähler herabzusetzen. Daß das gleiche sssnus Qoniwum, Mommsen als popu¬
lären Historiker feiert, rührt sicherlich uicht daher, daß seine Wühler seine Ver¬
dienste um die Herausgabe der römischen Inschriften und seine Auffassung von
der römischen Geschichte kannten; seine Leidenschaftlichkeit als oppositioneller
Abgeordneter -- eine Eigenschaft, die gerade dem Historiker fern bleiben sollte --
hat Mommsen in der Presse und in den Versammlungen fortschrittlicher Wähler
zum Geistesheros gestempelt. In den Zeiten des Antisemitismus wurde es


Grenzboten HI. 1887. 51


Ranke als Tagespolitiker.

icht jeder berühmte Gelehrte ist „populär," d. h. der großen
Masse bekannt; ja nach den Beispielen, die wir selbst erleben, kann
man sogar behaupten, daß die „Popularität" eines Gelehrten
meistens mit seiner Wissenschaft nicht zusammenhängt und daß
die Wissenschaft durch die Popularität nicht selten leidet. In den
Tagen des Göttinger Uuiversitätsjubiläums ist von Professor Weber weniger
als Erfinder des Telegraphen, mehr als gesinnungstreuen Staatsmann gesprochen
worden, der zu den sieben von Ernst August wegen ihrer Verfassungstreue ge-
maßregelten Göttinger Dozenten gehörte. Chevreuil ist in Frankreich erst po¬
pulär geworden, als man sein hundertjähriges Geburtstngsfest zu einer öffent¬
lichen Feier benutzte. Dem Berliner Fortschrittswühler ist Virchow nicht sowohl
wegen seiner Cellularpathologie als wegen seiner Phrasen und Tiraden auf Ti-
voli und im Parlament der berühmte Gelehrte, und sein Hauptverdienst wird
vou der gedankenlosen großen Menge nach den Reden geschätzt, die er gegen
den Reichskanzler gehalten hat; selbst die vielen nicht eingetroffenen Prophe¬
zeiungen auf dem ihm fremden Gebiete der hohen Politik sind nicht imstande
gewesen, seine Berühmtheit als Staatsmann in den Augen der Fortschritts¬
wähler herabzusetzen. Daß das gleiche sssnus Qoniwum, Mommsen als popu¬
lären Historiker feiert, rührt sicherlich uicht daher, daß seine Wühler seine Ver¬
dienste um die Herausgabe der römischen Inschriften und seine Auffassung von
der römischen Geschichte kannten; seine Leidenschaftlichkeit als oppositioneller
Abgeordneter — eine Eigenschaft, die gerade dem Historiker fern bleiben sollte —
hat Mommsen in der Presse und in den Versammlungen fortschrittlicher Wähler
zum Geistesheros gestempelt. In den Zeiten des Antisemitismus wurde es


Grenzboten HI. 1887. 51
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[0409] [Abbildung] Ranke als Tagespolitiker. icht jeder berühmte Gelehrte ist „populär," d. h. der großen Masse bekannt; ja nach den Beispielen, die wir selbst erleben, kann man sogar behaupten, daß die „Popularität" eines Gelehrten meistens mit seiner Wissenschaft nicht zusammenhängt und daß die Wissenschaft durch die Popularität nicht selten leidet. In den Tagen des Göttinger Uuiversitätsjubiläums ist von Professor Weber weniger als Erfinder des Telegraphen, mehr als gesinnungstreuen Staatsmann gesprochen worden, der zu den sieben von Ernst August wegen ihrer Verfassungstreue ge- maßregelten Göttinger Dozenten gehörte. Chevreuil ist in Frankreich erst po¬ pulär geworden, als man sein hundertjähriges Geburtstngsfest zu einer öffent¬ lichen Feier benutzte. Dem Berliner Fortschrittswühler ist Virchow nicht sowohl wegen seiner Cellularpathologie als wegen seiner Phrasen und Tiraden auf Ti- voli und im Parlament der berühmte Gelehrte, und sein Hauptverdienst wird vou der gedankenlosen großen Menge nach den Reden geschätzt, die er gegen den Reichskanzler gehalten hat; selbst die vielen nicht eingetroffenen Prophe¬ zeiungen auf dem ihm fremden Gebiete der hohen Politik sind nicht imstande gewesen, seine Berühmtheit als Staatsmann in den Augen der Fortschritts¬ wähler herabzusetzen. Daß das gleiche sssnus Qoniwum, Mommsen als popu¬ lären Historiker feiert, rührt sicherlich uicht daher, daß seine Wühler seine Ver¬ dienste um die Herausgabe der römischen Inschriften und seine Auffassung von der römischen Geschichte kannten; seine Leidenschaftlichkeit als oppositioneller Abgeordneter — eine Eigenschaft, die gerade dem Historiker fern bleiben sollte — hat Mommsen in der Presse und in den Versammlungen fortschrittlicher Wähler zum Geistesheros gestempelt. In den Zeiten des Antisemitismus wurde es Grenzboten HI. 1887. 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/409>, abgerufen am 29.04.2024.