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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Hans Pöhnls volksbühnenspiele.

Unter den Abänderungen des Kvdizills ist eine auffällig: die, welche sich
auf Dr. Fink bezieht, den bekannten Herausgeber des stets in Verbindung mit
seinem Namen genannten "Musikalischen Hausschatzes," den Nachfolger Rochlitzcns
in der Leitung der "Allgemeinen musikalischen Zeitung." Nochlitzens Freund¬
schaft zu Fink scheint also später erkaltet zu sein. Über die Ursache davon wissen
wir nichts; vielleicht waren es nur Abweichungen in ihren Kunstanschauungen,
die das Verhältnis gelockert hatten: nach allem, was wir sonst über Rochlitz
und Fink wissen, müssen sie z. B. einer Erscheinung wie Robert Schumann
grundverschieden gegenübergestanden haben.

Der Grabstein Rochlitzens wurde genau nach seiner Angabe hergestellt. Das
Grab befindet sich noch wohlerhalten auf dem alten Leipziger Johannisfriedhofe.




Hans pöhnls Oolksbühnenspiele.

HM
"or hundert Jahren schrieb Lessing die seitdem oft angeführten
Worte nieder: "Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein
Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation
sind! Ich rede nicht vou der politischen Verfassung, sondern bloß
von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei,
keinen eignen haben zu wollen." Inzwischen ist das deutsche Volk eine Nation
geworden: es ist politisch eine Einheit geworden, und hat unter den Völkern
Europas ein Ansehen und eine Macht gewonnen, wie sie Lessing kaum geahnt
hat. Aber noch mehr. Seitdem Lessing jene schmerzlich ironischen Worte ge¬
schrieben hat, ist das Streben nach dem Besitz, nach Wiedergewinnung oder
Neubildung des Nationalcharakters herrschend für das ganze Leben unsers
Volkes geworden. Die Idee der Nationalität hat dem Jahrhundert, das zwischen
uns und Lessing liegt, den Stempel aufgedrückt. Erst uach ihm, der mit zu
jenen Heroen des dentschen Geistes gehört, welche das von den Erfolgen des
wälschen Nachbars eingeschüchterte deutsche Nationalgefühl wieder aufrichten
halfen, erst uach Lessing ist das deutsche Volk zum Nationalgefühl gelangt.
Der Begriff der Nationalität, als eines großen, geistigen und sittlichen Or¬
ganismus, ist erst in unserm Jahrhundert ausgearbeitet und mit der konkreten
Kenntnis seiner wirklichen Lebensformen ausgefüllt worden. Wir kennen jetzt
ein nationales deutsches Recht, ursprünglich deutsche Sitte, eine original deutsche
Kunst und Poesie. Lessing hatte nur die ahnungsvolle Idee einer Wissenschaft,
welche das ihm folgende Jahrhundert zu schaffen sich angelegen sein ließ: Herder


Hans Pöhnls volksbühnenspiele.

Unter den Abänderungen des Kvdizills ist eine auffällig: die, welche sich
auf Dr. Fink bezieht, den bekannten Herausgeber des stets in Verbindung mit
seinem Namen genannten „Musikalischen Hausschatzes," den Nachfolger Rochlitzcns
in der Leitung der „Allgemeinen musikalischen Zeitung." Nochlitzens Freund¬
schaft zu Fink scheint also später erkaltet zu sein. Über die Ursache davon wissen
wir nichts; vielleicht waren es nur Abweichungen in ihren Kunstanschauungen,
die das Verhältnis gelockert hatten: nach allem, was wir sonst über Rochlitz
und Fink wissen, müssen sie z. B. einer Erscheinung wie Robert Schumann
grundverschieden gegenübergestanden haben.

Der Grabstein Rochlitzens wurde genau nach seiner Angabe hergestellt. Das
Grab befindet sich noch wohlerhalten auf dem alten Leipziger Johannisfriedhofe.




Hans pöhnls Oolksbühnenspiele.

HM
«or hundert Jahren schrieb Lessing die seitdem oft angeführten
Worte nieder: „Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein
Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation
sind! Ich rede nicht vou der politischen Verfassung, sondern bloß
von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei,
keinen eignen haben zu wollen." Inzwischen ist das deutsche Volk eine Nation
geworden: es ist politisch eine Einheit geworden, und hat unter den Völkern
Europas ein Ansehen und eine Macht gewonnen, wie sie Lessing kaum geahnt
hat. Aber noch mehr. Seitdem Lessing jene schmerzlich ironischen Worte ge¬
schrieben hat, ist das Streben nach dem Besitz, nach Wiedergewinnung oder
Neubildung des Nationalcharakters herrschend für das ganze Leben unsers
Volkes geworden. Die Idee der Nationalität hat dem Jahrhundert, das zwischen
uns und Lessing liegt, den Stempel aufgedrückt. Erst uach ihm, der mit zu
jenen Heroen des dentschen Geistes gehört, welche das von den Erfolgen des
wälschen Nachbars eingeschüchterte deutsche Nationalgefühl wieder aufrichten
halfen, erst uach Lessing ist das deutsche Volk zum Nationalgefühl gelangt.
Der Begriff der Nationalität, als eines großen, geistigen und sittlichen Or¬
ganismus, ist erst in unserm Jahrhundert ausgearbeitet und mit der konkreten
Kenntnis seiner wirklichen Lebensformen ausgefüllt worden. Wir kennen jetzt
ein nationales deutsches Recht, ursprünglich deutsche Sitte, eine original deutsche
Kunst und Poesie. Lessing hatte nur die ahnungsvolle Idee einer Wissenschaft,
welche das ihm folgende Jahrhundert zu schaffen sich angelegen sein ließ: Herder


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[0539] Hans Pöhnls volksbühnenspiele. Unter den Abänderungen des Kvdizills ist eine auffällig: die, welche sich auf Dr. Fink bezieht, den bekannten Herausgeber des stets in Verbindung mit seinem Namen genannten „Musikalischen Hausschatzes," den Nachfolger Rochlitzcns in der Leitung der „Allgemeinen musikalischen Zeitung." Nochlitzens Freund¬ schaft zu Fink scheint also später erkaltet zu sein. Über die Ursache davon wissen wir nichts; vielleicht waren es nur Abweichungen in ihren Kunstanschauungen, die das Verhältnis gelockert hatten: nach allem, was wir sonst über Rochlitz und Fink wissen, müssen sie z. B. einer Erscheinung wie Robert Schumann grundverschieden gegenübergestanden haben. Der Grabstein Rochlitzens wurde genau nach seiner Angabe hergestellt. Das Grab befindet sich noch wohlerhalten auf dem alten Leipziger Johannisfriedhofe. Hans pöhnls Oolksbühnenspiele. HM «or hundert Jahren schrieb Lessing die seitdem oft angeführten Worte nieder: „Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht vou der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei, keinen eignen haben zu wollen." Inzwischen ist das deutsche Volk eine Nation geworden: es ist politisch eine Einheit geworden, und hat unter den Völkern Europas ein Ansehen und eine Macht gewonnen, wie sie Lessing kaum geahnt hat. Aber noch mehr. Seitdem Lessing jene schmerzlich ironischen Worte ge¬ schrieben hat, ist das Streben nach dem Besitz, nach Wiedergewinnung oder Neubildung des Nationalcharakters herrschend für das ganze Leben unsers Volkes geworden. Die Idee der Nationalität hat dem Jahrhundert, das zwischen uns und Lessing liegt, den Stempel aufgedrückt. Erst uach ihm, der mit zu jenen Heroen des dentschen Geistes gehört, welche das von den Erfolgen des wälschen Nachbars eingeschüchterte deutsche Nationalgefühl wieder aufrichten halfen, erst uach Lessing ist das deutsche Volk zum Nationalgefühl gelangt. Der Begriff der Nationalität, als eines großen, geistigen und sittlichen Or¬ ganismus, ist erst in unserm Jahrhundert ausgearbeitet und mit der konkreten Kenntnis seiner wirklichen Lebensformen ausgefüllt worden. Wir kennen jetzt ein nationales deutsches Recht, ursprünglich deutsche Sitte, eine original deutsche Kunst und Poesie. Lessing hatte nur die ahnungsvolle Idee einer Wissenschaft, welche das ihm folgende Jahrhundert zu schaffen sich angelegen sein ließ: Herder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/539>, abgerufen am 29.04.2024.