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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Literatur.
Beitrüge zur Kulturgeschichte Rußlands im siebzehnten Jahrhundert, Von
Alexander Bruckner. Leipzig, Mischer, 1887.

Der Verfasser dieses Buches seit sich durch eine auf gründlichen Quellenstudien be¬
ruhende Schrift über Peter deu Großen einen guten Namen auf dem Gebiete der histo¬
rischen Wissenschaften erworben. Das vorliegende Buch besteht aus einer Anzahl von
Abhandlungen, welche sehr verschiedenartige Stoffe behandeln, aber das gemein
haben, daß sie sich sämtlich auf die Jahrzehnte unmittelbar vor der Zeit Peters
beziehen und auf diese ein neues Licht werfen. Einige derselben, wie gleich die
erste "gur Naturgeschichte der Prätendenten" in ihrer zweiten Hälfte, die Darstel¬
lung der großen Pest, welche Rußland im Jahre 1654 heimsuchte und furchtbare
Menschenverluste herbeiführte, ferner die Schilderung der Gesandtschaftsreisen
Tschemodanows nach Venedig und Florenz (1656 bis 1657) und Potcmkins nach
Paris (1631) zeigen, wie Moskowien noch bis tief in das siebzehnte Jahrhundert
hinein ein fast völlig orientalischer Staat war; andre, wie die Darlegung der
Reformobjekte Krischanitschs in Betreff des Kleiderwesens und die Biographien
Ninhnbers, W. W, Golizins und Gordons, beleuchten die damals beginnende An¬
näherung Rußlands an den höher entwickelten Westen und beweisen mit großer
Bestimmtheit, daß die Umgestaltung Rußlands, der Fortschritt, der darin lag, daß
dieses Reich sich entschloß, in die Schule westlicher Bildung und Gesittung zu gehe",
sich unabhängig von dem Willen einzelner vollziehen mußte, mit andern Worten,
daß die russische Welt auch ohne Peter den Großen europciisirt worden wäre --
soweit dies bei dem Charakter der Bevölkerung in allen ihren Schichten möglich
war. Ohne eingehende Erforschung einzelner Erscheinungen, welche für diese all¬
mähliche Metamorphose besonders charakteristisch sind, ist das Wesen des Prozesses,
der Rußland in den letzten beiden Jahrhunderten zu eiuer europäischen Großmacht
werden ließ, nicht zu verstehen, und so haben wir dem Verfasser aufrichtig zu
denken, daß er sich dieser Aufgabe unterzog. Die Geschichte wird nicht gemacht,
sondern sie macht sich selbst, sie wird, sie ist ein Organismus, der sich nach be¬
stimmten Gesetzen gestaltet hat und weiter gestaltet. Das scheinbar Zufällige ist
ein Notwendiges, Die Geschichtschreibung darf nicht bei den Individuen stehen
bleiben, Sie sind teils Exemplare der Gattung, bestimmt durch Erbschaft, teils
Produkte ihrer Zeit, der obwaltenden Umstände, der bestehenden Verhältnisse, Die
einzelnen Thatsachen müssen als Ausprägung einer Idee, eines Prinzips, als
Symptome eines innern Vorganges im Körper der Menschheit angesehen werden.
Bei dieser Betrachtungsweise ist man nicht genötigt, den freien Willen des Indi¬
viduums vollständig zu leugnen, und die Große einzelner Genien und Helden wird
dadurch nicht beeinträchtigt. Man lese zum Verstäuduis des hier Bemerkten das
hochinteressante Kapitel unsrer Schrift über die Prätendenten, deren es in manchen
Jahrhunderten und ebenso in manchen Länder" sehr wenige, in andern dagegen
außerordentlich viele gab. In Rußland traten von Anfang des siebzehnten bis
zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach und nach mehr als zwanzig auf, und
es ist klar, daß eine solche Erscheinung nicht sowohl mit der verbrecherischen Neigung


Literatur.
Beitrüge zur Kulturgeschichte Rußlands im siebzehnten Jahrhundert, Von
Alexander Bruckner. Leipzig, Mischer, 1887.

Der Verfasser dieses Buches seit sich durch eine auf gründlichen Quellenstudien be¬
ruhende Schrift über Peter deu Großen einen guten Namen auf dem Gebiete der histo¬
rischen Wissenschaften erworben. Das vorliegende Buch besteht aus einer Anzahl von
Abhandlungen, welche sehr verschiedenartige Stoffe behandeln, aber das gemein
haben, daß sie sich sämtlich auf die Jahrzehnte unmittelbar vor der Zeit Peters
beziehen und auf diese ein neues Licht werfen. Einige derselben, wie gleich die
erste „gur Naturgeschichte der Prätendenten" in ihrer zweiten Hälfte, die Darstel¬
lung der großen Pest, welche Rußland im Jahre 1654 heimsuchte und furchtbare
Menschenverluste herbeiführte, ferner die Schilderung der Gesandtschaftsreisen
Tschemodanows nach Venedig und Florenz (1656 bis 1657) und Potcmkins nach
Paris (1631) zeigen, wie Moskowien noch bis tief in das siebzehnte Jahrhundert
hinein ein fast völlig orientalischer Staat war; andre, wie die Darlegung der
Reformobjekte Krischanitschs in Betreff des Kleiderwesens und die Biographien
Ninhnbers, W. W, Golizins und Gordons, beleuchten die damals beginnende An¬
näherung Rußlands an den höher entwickelten Westen und beweisen mit großer
Bestimmtheit, daß die Umgestaltung Rußlands, der Fortschritt, der darin lag, daß
dieses Reich sich entschloß, in die Schule westlicher Bildung und Gesittung zu gehe»,
sich unabhängig von dem Willen einzelner vollziehen mußte, mit andern Worten,
daß die russische Welt auch ohne Peter den Großen europciisirt worden wäre —
soweit dies bei dem Charakter der Bevölkerung in allen ihren Schichten möglich
war. Ohne eingehende Erforschung einzelner Erscheinungen, welche für diese all¬
mähliche Metamorphose besonders charakteristisch sind, ist das Wesen des Prozesses,
der Rußland in den letzten beiden Jahrhunderten zu eiuer europäischen Großmacht
werden ließ, nicht zu verstehen, und so haben wir dem Verfasser aufrichtig zu
denken, daß er sich dieser Aufgabe unterzog. Die Geschichte wird nicht gemacht,
sondern sie macht sich selbst, sie wird, sie ist ein Organismus, der sich nach be¬
stimmten Gesetzen gestaltet hat und weiter gestaltet. Das scheinbar Zufällige ist
ein Notwendiges, Die Geschichtschreibung darf nicht bei den Individuen stehen
bleiben, Sie sind teils Exemplare der Gattung, bestimmt durch Erbschaft, teils
Produkte ihrer Zeit, der obwaltenden Umstände, der bestehenden Verhältnisse, Die
einzelnen Thatsachen müssen als Ausprägung einer Idee, eines Prinzips, als
Symptome eines innern Vorganges im Körper der Menschheit angesehen werden.
Bei dieser Betrachtungsweise ist man nicht genötigt, den freien Willen des Indi¬
viduums vollständig zu leugnen, und die Große einzelner Genien und Helden wird
dadurch nicht beeinträchtigt. Man lese zum Verstäuduis des hier Bemerkten das
hochinteressante Kapitel unsrer Schrift über die Prätendenten, deren es in manchen
Jahrhunderten und ebenso in manchen Länder» sehr wenige, in andern dagegen
außerordentlich viele gab. In Rußland traten von Anfang des siebzehnten bis
zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach und nach mehr als zwanzig auf, und
es ist klar, daß eine solche Erscheinung nicht sowohl mit der verbrecherischen Neigung


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[0598] Literatur. Beitrüge zur Kulturgeschichte Rußlands im siebzehnten Jahrhundert, Von Alexander Bruckner. Leipzig, Mischer, 1887. Der Verfasser dieses Buches seit sich durch eine auf gründlichen Quellenstudien be¬ ruhende Schrift über Peter deu Großen einen guten Namen auf dem Gebiete der histo¬ rischen Wissenschaften erworben. Das vorliegende Buch besteht aus einer Anzahl von Abhandlungen, welche sehr verschiedenartige Stoffe behandeln, aber das gemein haben, daß sie sich sämtlich auf die Jahrzehnte unmittelbar vor der Zeit Peters beziehen und auf diese ein neues Licht werfen. Einige derselben, wie gleich die erste „gur Naturgeschichte der Prätendenten" in ihrer zweiten Hälfte, die Darstel¬ lung der großen Pest, welche Rußland im Jahre 1654 heimsuchte und furchtbare Menschenverluste herbeiführte, ferner die Schilderung der Gesandtschaftsreisen Tschemodanows nach Venedig und Florenz (1656 bis 1657) und Potcmkins nach Paris (1631) zeigen, wie Moskowien noch bis tief in das siebzehnte Jahrhundert hinein ein fast völlig orientalischer Staat war; andre, wie die Darlegung der Reformobjekte Krischanitschs in Betreff des Kleiderwesens und die Biographien Ninhnbers, W. W, Golizins und Gordons, beleuchten die damals beginnende An¬ näherung Rußlands an den höher entwickelten Westen und beweisen mit großer Bestimmtheit, daß die Umgestaltung Rußlands, der Fortschritt, der darin lag, daß dieses Reich sich entschloß, in die Schule westlicher Bildung und Gesittung zu gehe», sich unabhängig von dem Willen einzelner vollziehen mußte, mit andern Worten, daß die russische Welt auch ohne Peter den Großen europciisirt worden wäre — soweit dies bei dem Charakter der Bevölkerung in allen ihren Schichten möglich war. Ohne eingehende Erforschung einzelner Erscheinungen, welche für diese all¬ mähliche Metamorphose besonders charakteristisch sind, ist das Wesen des Prozesses, der Rußland in den letzten beiden Jahrhunderten zu eiuer europäischen Großmacht werden ließ, nicht zu verstehen, und so haben wir dem Verfasser aufrichtig zu denken, daß er sich dieser Aufgabe unterzog. Die Geschichte wird nicht gemacht, sondern sie macht sich selbst, sie wird, sie ist ein Organismus, der sich nach be¬ stimmten Gesetzen gestaltet hat und weiter gestaltet. Das scheinbar Zufällige ist ein Notwendiges, Die Geschichtschreibung darf nicht bei den Individuen stehen bleiben, Sie sind teils Exemplare der Gattung, bestimmt durch Erbschaft, teils Produkte ihrer Zeit, der obwaltenden Umstände, der bestehenden Verhältnisse, Die einzelnen Thatsachen müssen als Ausprägung einer Idee, eines Prinzips, als Symptome eines innern Vorganges im Körper der Menschheit angesehen werden. Bei dieser Betrachtungsweise ist man nicht genötigt, den freien Willen des Indi¬ viduums vollständig zu leugnen, und die Große einzelner Genien und Helden wird dadurch nicht beeinträchtigt. Man lese zum Verstäuduis des hier Bemerkten das hochinteressante Kapitel unsrer Schrift über die Prätendenten, deren es in manchen Jahrhunderten und ebenso in manchen Länder» sehr wenige, in andern dagegen außerordentlich viele gab. In Rußland traten von Anfang des siebzehnten bis zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach und nach mehr als zwanzig auf, und es ist klar, daß eine solche Erscheinung nicht sowohl mit der verbrecherischen Neigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/598>, abgerufen am 29.04.2024.