Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Überproduktion.

le wirtschaftlichen Übelstände der Gegenwart werden von vielen
Berufenen und Unberufenen der Überproduktion zur Last gelegt.
Bald ist von allgemeiner, bald von Überproduktion auf einzelnen
Wirtschaftsgebieten die Rede. Die allgemeine Überproduktion wird
von vielen für unmöglich erklärt, weil die Bedürfnisse der Kon¬
sumenten dehnbar und ins Unendliche erweiterungsfähig seien. Wenn von allen
Verbrauchsgegenständen mehr erzeugt werde, so sei vermehrter Austausch die
Folge und dementsprechend auch vermehrter Gebrauch.

Es ist gewiß von großer Bedeutung, über diesen hochwichtigen Gegenstand
zu voller Klarheit zu gelangen. Denn nur, wenn der Sitz des Übels völlig
erkannt ist, können die zweckmäßigsten Mittel zur Heilung angewandt werden.
Die Hauptfrage ist die: Kann eine allgemeine Überproduktion eintreten, und wenn
dies der Fall ist, welche Mittel müssen aligewandt werden, um Abhilfe zu
schaffen?

Wenn man bei der Erörterung dieses Gegenstandes noch viel Unklar¬
heit findet, so liegt dies daran, daß man sich über den Begriff der Überpro¬
duktion noch nicht geeinigt hat. Während einige unter Überproduktion diejenige
Produktion verstehen, welche über das vorhandene Bedürfnis der Konsumenten
hinausgeht, erkennen andre eine Überproduktion als vorhanden an, wenn die
Kaufkraft der Konsumenten, also die Befähigung, das Bedürfnis zu befriedigen,
hinter der Produktion zurückbleibt. Es ist leicht einzusehen, daß diese Auffas¬
sungen weit auseinandergehen. Das Bedürfnis ist dehnbar, crweiternngsfühig,
vielleicht unbegrenzt. Es braucht uicht bewiesen zu werden, daß von den meisten
Gegenständen der Produktion viel mehr verbraucht werden könnte, wenn die¬
jenigen, welche das Bedürfnis empfinden, es auch befriedigen könnten. Man
klagt über Überproduktion an Kohle, Getreide, Zucker, und doch leidet es nicht
den mindesten Zweifel, daß Hunderttausende, vielleicht Millionen von Menschen
im Winter ihre Räume nnr unzureichend erwärmen können, daß sie, anstatt
Roggen- und Weizenbrod zu essen, sich Tag für Tag mit Kartoffeln begnügen
müssen, und daß sie ihren dünnen Kaffee nicht mit Zucker zu versüßen imstande
sind. In Deutschland kommen nur acht bis neun Kilo Zucker jährlich auf den
Kopf der Bevölkerung, während in den Vereinigten Staaten etwa die dreifache
Menge Verwendung findet. Stiege der Verbrauch des Zuckers in Deutsch¬
land auf das Doppelte, so würden etwa 375 Millionen Kilo Zucker mehr ver¬
braucht werden, und von einer Überproduktion wäre fürs erste keine Rede.


Überproduktion.

le wirtschaftlichen Übelstände der Gegenwart werden von vielen
Berufenen und Unberufenen der Überproduktion zur Last gelegt.
Bald ist von allgemeiner, bald von Überproduktion auf einzelnen
Wirtschaftsgebieten die Rede. Die allgemeine Überproduktion wird
von vielen für unmöglich erklärt, weil die Bedürfnisse der Kon¬
sumenten dehnbar und ins Unendliche erweiterungsfähig seien. Wenn von allen
Verbrauchsgegenständen mehr erzeugt werde, so sei vermehrter Austausch die
Folge und dementsprechend auch vermehrter Gebrauch.

Es ist gewiß von großer Bedeutung, über diesen hochwichtigen Gegenstand
zu voller Klarheit zu gelangen. Denn nur, wenn der Sitz des Übels völlig
erkannt ist, können die zweckmäßigsten Mittel zur Heilung angewandt werden.
Die Hauptfrage ist die: Kann eine allgemeine Überproduktion eintreten, und wenn
dies der Fall ist, welche Mittel müssen aligewandt werden, um Abhilfe zu
schaffen?

Wenn man bei der Erörterung dieses Gegenstandes noch viel Unklar¬
heit findet, so liegt dies daran, daß man sich über den Begriff der Überpro¬
duktion noch nicht geeinigt hat. Während einige unter Überproduktion diejenige
Produktion verstehen, welche über das vorhandene Bedürfnis der Konsumenten
hinausgeht, erkennen andre eine Überproduktion als vorhanden an, wenn die
Kaufkraft der Konsumenten, also die Befähigung, das Bedürfnis zu befriedigen,
hinter der Produktion zurückbleibt. Es ist leicht einzusehen, daß diese Auffas¬
sungen weit auseinandergehen. Das Bedürfnis ist dehnbar, crweiternngsfühig,
vielleicht unbegrenzt. Es braucht uicht bewiesen zu werden, daß von den meisten
Gegenständen der Produktion viel mehr verbraucht werden könnte, wenn die¬
jenigen, welche das Bedürfnis empfinden, es auch befriedigen könnten. Man
klagt über Überproduktion an Kohle, Getreide, Zucker, und doch leidet es nicht
den mindesten Zweifel, daß Hunderttausende, vielleicht Millionen von Menschen
im Winter ihre Räume nnr unzureichend erwärmen können, daß sie, anstatt
Roggen- und Weizenbrod zu essen, sich Tag für Tag mit Kartoffeln begnügen
müssen, und daß sie ihren dünnen Kaffee nicht mit Zucker zu versüßen imstande
sind. In Deutschland kommen nur acht bis neun Kilo Zucker jährlich auf den
Kopf der Bevölkerung, während in den Vereinigten Staaten etwa die dreifache
Menge Verwendung findet. Stiege der Verbrauch des Zuckers in Deutsch¬
land auf das Doppelte, so würden etwa 375 Millionen Kilo Zucker mehr ver¬
braucht werden, und von einer Überproduktion wäre fürs erste keine Rede.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201445"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Überproduktion.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_13"> le wirtschaftlichen Übelstände der Gegenwart werden von vielen<lb/>
Berufenen und Unberufenen der Überproduktion zur Last gelegt.<lb/>
Bald ist von allgemeiner, bald von Überproduktion auf einzelnen<lb/>
Wirtschaftsgebieten die Rede. Die allgemeine Überproduktion wird<lb/>
von vielen für unmöglich erklärt, weil die Bedürfnisse der Kon¬<lb/>
sumenten dehnbar und ins Unendliche erweiterungsfähig seien. Wenn von allen<lb/>
Verbrauchsgegenständen mehr erzeugt werde, so sei vermehrter Austausch die<lb/>
Folge und dementsprechend auch vermehrter Gebrauch.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_14"> Es ist gewiß von großer Bedeutung, über diesen hochwichtigen Gegenstand<lb/>
zu voller Klarheit zu gelangen. Denn nur, wenn der Sitz des Übels völlig<lb/>
erkannt ist, können die zweckmäßigsten Mittel zur Heilung angewandt werden.<lb/>
Die Hauptfrage ist die: Kann eine allgemeine Überproduktion eintreten, und wenn<lb/>
dies der Fall ist, welche Mittel müssen aligewandt werden, um Abhilfe zu<lb/>
schaffen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_15" next="#ID_16"> Wenn man bei der Erörterung dieses Gegenstandes noch viel Unklar¬<lb/>
heit findet, so liegt dies daran, daß man sich über den Begriff der Überpro¬<lb/>
duktion noch nicht geeinigt hat. Während einige unter Überproduktion diejenige<lb/>
Produktion verstehen, welche über das vorhandene Bedürfnis der Konsumenten<lb/>
hinausgeht, erkennen andre eine Überproduktion als vorhanden an, wenn die<lb/>
Kaufkraft der Konsumenten, also die Befähigung, das Bedürfnis zu befriedigen,<lb/>
hinter der Produktion zurückbleibt. Es ist leicht einzusehen, daß diese Auffas¬<lb/>
sungen weit auseinandergehen. Das Bedürfnis ist dehnbar, crweiternngsfühig,<lb/>
vielleicht unbegrenzt. Es braucht uicht bewiesen zu werden, daß von den meisten<lb/>
Gegenständen der Produktion viel mehr verbraucht werden könnte, wenn die¬<lb/>
jenigen, welche das Bedürfnis empfinden, es auch befriedigen könnten. Man<lb/>
klagt über Überproduktion an Kohle, Getreide, Zucker, und doch leidet es nicht<lb/>
den mindesten Zweifel, daß Hunderttausende, vielleicht Millionen von Menschen<lb/>
im Winter ihre Räume nnr unzureichend erwärmen können, daß sie, anstatt<lb/>
Roggen- und Weizenbrod zu essen, sich Tag für Tag mit Kartoffeln begnügen<lb/>
müssen, und daß sie ihren dünnen Kaffee nicht mit Zucker zu versüßen imstande<lb/>
sind. In Deutschland kommen nur acht bis neun Kilo Zucker jährlich auf den<lb/>
Kopf der Bevölkerung, während in den Vereinigten Staaten etwa die dreifache<lb/>
Menge Verwendung findet. Stiege der Verbrauch des Zuckers in Deutsch¬<lb/>
land auf das Doppelte, so würden etwa 375 Millionen Kilo Zucker mehr ver¬<lb/>
braucht werden, und von einer Überproduktion wäre fürs erste keine Rede.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0016] Überproduktion. le wirtschaftlichen Übelstände der Gegenwart werden von vielen Berufenen und Unberufenen der Überproduktion zur Last gelegt. Bald ist von allgemeiner, bald von Überproduktion auf einzelnen Wirtschaftsgebieten die Rede. Die allgemeine Überproduktion wird von vielen für unmöglich erklärt, weil die Bedürfnisse der Kon¬ sumenten dehnbar und ins Unendliche erweiterungsfähig seien. Wenn von allen Verbrauchsgegenständen mehr erzeugt werde, so sei vermehrter Austausch die Folge und dementsprechend auch vermehrter Gebrauch. Es ist gewiß von großer Bedeutung, über diesen hochwichtigen Gegenstand zu voller Klarheit zu gelangen. Denn nur, wenn der Sitz des Übels völlig erkannt ist, können die zweckmäßigsten Mittel zur Heilung angewandt werden. Die Hauptfrage ist die: Kann eine allgemeine Überproduktion eintreten, und wenn dies der Fall ist, welche Mittel müssen aligewandt werden, um Abhilfe zu schaffen? Wenn man bei der Erörterung dieses Gegenstandes noch viel Unklar¬ heit findet, so liegt dies daran, daß man sich über den Begriff der Überpro¬ duktion noch nicht geeinigt hat. Während einige unter Überproduktion diejenige Produktion verstehen, welche über das vorhandene Bedürfnis der Konsumenten hinausgeht, erkennen andre eine Überproduktion als vorhanden an, wenn die Kaufkraft der Konsumenten, also die Befähigung, das Bedürfnis zu befriedigen, hinter der Produktion zurückbleibt. Es ist leicht einzusehen, daß diese Auffas¬ sungen weit auseinandergehen. Das Bedürfnis ist dehnbar, crweiternngsfühig, vielleicht unbegrenzt. Es braucht uicht bewiesen zu werden, daß von den meisten Gegenständen der Produktion viel mehr verbraucht werden könnte, wenn die¬ jenigen, welche das Bedürfnis empfinden, es auch befriedigen könnten. Man klagt über Überproduktion an Kohle, Getreide, Zucker, und doch leidet es nicht den mindesten Zweifel, daß Hunderttausende, vielleicht Millionen von Menschen im Winter ihre Räume nnr unzureichend erwärmen können, daß sie, anstatt Roggen- und Weizenbrod zu essen, sich Tag für Tag mit Kartoffeln begnügen müssen, und daß sie ihren dünnen Kaffee nicht mit Zucker zu versüßen imstande sind. In Deutschland kommen nur acht bis neun Kilo Zucker jährlich auf den Kopf der Bevölkerung, während in den Vereinigten Staaten etwa die dreifache Menge Verwendung findet. Stiege der Verbrauch des Zuckers in Deutsch¬ land auf das Doppelte, so würden etwa 375 Millionen Kilo Zucker mehr ver¬ braucht werden, und von einer Überproduktion wäre fürs erste keine Rede.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/16
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/16>, abgerufen am 01.05.2024.