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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Line Fahrt in den Vrient.

deutschen Landsleute beschleichen, die aus den blühenden Ländern der Heimat
hier in dieser Wüste ihre Zelte aufschlagen! Alles scheint hier ausgestorben,
nur hie und da begegnet uns ein tscherkessischer Reiter oder ein einsamer
Wasserträger. Endlich zeigten sich wieder Häuser, und als wir sie erreichten,
befanden wir uns in dem elenden Kassia Pascha, wo der landesübliche Schmutz
noch durch ein sumpfiges Wasser vermehrt wird, dessen Dünste diese Gegend
vorzugsweise zu einem Herd ansteckender Krankheiten machen. Aber das Volk
erträgt geduldiger das harte Loos, als wir den Weg ertrugen. Wir kürzten
ihn durch größere Steigungen ab und kamen endlich nach der langen Wanderung
wieder in Pera an.




^2. Türkische Verfassung und Verwaltung. -- Abschied von Aonstantinovel.

Ihr verlangt gewiß nicht, daß ich euch eine Staatsdenkschrift über die öffent¬
lichen Zustünde in der Türkei liefere, dazu müßte ich mindestens so viel Monate
hier weilen, als ich Tage hier bin, auch meine Reise tief in die Provinzen
erstrecken. Ich erzähle euch bloß das Wenige, was ich beobachtet habe, und ihr
mögt daraus eure Schlüsse ziehen.

Ein schönes Gebände in Stambul, unweit der Sophien-Moschee, wurde
mir als Parlamentsgebäude bezeichnet, und in der That besitzt das osmanische
Reich seit dem 23. Dezember 1876 eine Verfassung, wie sie nach dem allge¬
meinen Rezept in wenigen Stunden zusammengestellt werden kann, und wonach
sich auch die Verfasser allzubald überzeugen, daß ein solches Blatt Papier
zwischen dein Heute und Gestern keinen Unterschied macht. In der That ist das
Parlament von seinem Erfinder Midhat Pascha nur zu einem politischen Schach¬
zuge gegen die russischen Forderungen vor Beginn des letzten Feldzuges gebraucht
worden, seitdem ist es nicht wieder einberufen worden, und die Verfassung gerät
in Gefahr, durch Nichtgebrauch ihre Geltungskraft zu verlieren. In der Türkei
erscheint eben ein konstitutionelles Khalifentum eine eben solche Unmöglichkeit,
wie es ein konstitutionelles Papsttum sein würde, denn Theokratie und beschränkte
Monarchie sind Gegensätze, für welche es keine Versöhnung giebt. Als Haupt
der Gläubigen genießt aber der Sultan den vorzüglichsten Rechtstitel seiner
Macht; ihn der Verfassung zu opfern, würde schon einen Eingriff in die reli¬
giöse Gestaltung des Staates bilden. Ernstlich kann also ohne Bruch mit dem
Koran am Bosporus von einem verfassungsmäßigen Regiment keine Rede sein.
Dieses Religionsbuch hat vielmehr seinen Anhängern eine ganz andre politische
Richtung vorgeschrieben, nämlich durch Ausbreitung des Islams die Ungläubige"
zu bekämpfen; zum Lohn dafür überläßt er ihnen den Besitz der unterworfenen
Völker und diese selbst. Diese einfache Staatskunst haben auch die Osmanen
stets geübt; sie waren niemals dazu geeignet, Reiche des Friedens zu gründen,
Wohlstand und Kultur zu verbreiten. Im Gegenteil, um zu leben, mußten sie


Line Fahrt in den Vrient.

deutschen Landsleute beschleichen, die aus den blühenden Ländern der Heimat
hier in dieser Wüste ihre Zelte aufschlagen! Alles scheint hier ausgestorben,
nur hie und da begegnet uns ein tscherkessischer Reiter oder ein einsamer
Wasserträger. Endlich zeigten sich wieder Häuser, und als wir sie erreichten,
befanden wir uns in dem elenden Kassia Pascha, wo der landesübliche Schmutz
noch durch ein sumpfiges Wasser vermehrt wird, dessen Dünste diese Gegend
vorzugsweise zu einem Herd ansteckender Krankheiten machen. Aber das Volk
erträgt geduldiger das harte Loos, als wir den Weg ertrugen. Wir kürzten
ihn durch größere Steigungen ab und kamen endlich nach der langen Wanderung
wieder in Pera an.




^2. Türkische Verfassung und Verwaltung. — Abschied von Aonstantinovel.

Ihr verlangt gewiß nicht, daß ich euch eine Staatsdenkschrift über die öffent¬
lichen Zustünde in der Türkei liefere, dazu müßte ich mindestens so viel Monate
hier weilen, als ich Tage hier bin, auch meine Reise tief in die Provinzen
erstrecken. Ich erzähle euch bloß das Wenige, was ich beobachtet habe, und ihr
mögt daraus eure Schlüsse ziehen.

Ein schönes Gebände in Stambul, unweit der Sophien-Moschee, wurde
mir als Parlamentsgebäude bezeichnet, und in der That besitzt das osmanische
Reich seit dem 23. Dezember 1876 eine Verfassung, wie sie nach dem allge¬
meinen Rezept in wenigen Stunden zusammengestellt werden kann, und wonach
sich auch die Verfasser allzubald überzeugen, daß ein solches Blatt Papier
zwischen dein Heute und Gestern keinen Unterschied macht. In der That ist das
Parlament von seinem Erfinder Midhat Pascha nur zu einem politischen Schach¬
zuge gegen die russischen Forderungen vor Beginn des letzten Feldzuges gebraucht
worden, seitdem ist es nicht wieder einberufen worden, und die Verfassung gerät
in Gefahr, durch Nichtgebrauch ihre Geltungskraft zu verlieren. In der Türkei
erscheint eben ein konstitutionelles Khalifentum eine eben solche Unmöglichkeit,
wie es ein konstitutionelles Papsttum sein würde, denn Theokratie und beschränkte
Monarchie sind Gegensätze, für welche es keine Versöhnung giebt. Als Haupt
der Gläubigen genießt aber der Sultan den vorzüglichsten Rechtstitel seiner
Macht; ihn der Verfassung zu opfern, würde schon einen Eingriff in die reli¬
giöse Gestaltung des Staates bilden. Ernstlich kann also ohne Bruch mit dem
Koran am Bosporus von einem verfassungsmäßigen Regiment keine Rede sein.
Dieses Religionsbuch hat vielmehr seinen Anhängern eine ganz andre politische
Richtung vorgeschrieben, nämlich durch Ausbreitung des Islams die Ungläubige»
zu bekämpfen; zum Lohn dafür überläßt er ihnen den Besitz der unterworfenen
Völker und diese selbst. Diese einfache Staatskunst haben auch die Osmanen
stets geübt; sie waren niemals dazu geeignet, Reiche des Friedens zu gründen,
Wohlstand und Kultur zu verbreiten. Im Gegenteil, um zu leben, mußten sie


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[0541] Line Fahrt in den Vrient. deutschen Landsleute beschleichen, die aus den blühenden Ländern der Heimat hier in dieser Wüste ihre Zelte aufschlagen! Alles scheint hier ausgestorben, nur hie und da begegnet uns ein tscherkessischer Reiter oder ein einsamer Wasserträger. Endlich zeigten sich wieder Häuser, und als wir sie erreichten, befanden wir uns in dem elenden Kassia Pascha, wo der landesübliche Schmutz noch durch ein sumpfiges Wasser vermehrt wird, dessen Dünste diese Gegend vorzugsweise zu einem Herd ansteckender Krankheiten machen. Aber das Volk erträgt geduldiger das harte Loos, als wir den Weg ertrugen. Wir kürzten ihn durch größere Steigungen ab und kamen endlich nach der langen Wanderung wieder in Pera an. ^2. Türkische Verfassung und Verwaltung. — Abschied von Aonstantinovel. Ihr verlangt gewiß nicht, daß ich euch eine Staatsdenkschrift über die öffent¬ lichen Zustünde in der Türkei liefere, dazu müßte ich mindestens so viel Monate hier weilen, als ich Tage hier bin, auch meine Reise tief in die Provinzen erstrecken. Ich erzähle euch bloß das Wenige, was ich beobachtet habe, und ihr mögt daraus eure Schlüsse ziehen. Ein schönes Gebände in Stambul, unweit der Sophien-Moschee, wurde mir als Parlamentsgebäude bezeichnet, und in der That besitzt das osmanische Reich seit dem 23. Dezember 1876 eine Verfassung, wie sie nach dem allge¬ meinen Rezept in wenigen Stunden zusammengestellt werden kann, und wonach sich auch die Verfasser allzubald überzeugen, daß ein solches Blatt Papier zwischen dein Heute und Gestern keinen Unterschied macht. In der That ist das Parlament von seinem Erfinder Midhat Pascha nur zu einem politischen Schach¬ zuge gegen die russischen Forderungen vor Beginn des letzten Feldzuges gebraucht worden, seitdem ist es nicht wieder einberufen worden, und die Verfassung gerät in Gefahr, durch Nichtgebrauch ihre Geltungskraft zu verlieren. In der Türkei erscheint eben ein konstitutionelles Khalifentum eine eben solche Unmöglichkeit, wie es ein konstitutionelles Papsttum sein würde, denn Theokratie und beschränkte Monarchie sind Gegensätze, für welche es keine Versöhnung giebt. Als Haupt der Gläubigen genießt aber der Sultan den vorzüglichsten Rechtstitel seiner Macht; ihn der Verfassung zu opfern, würde schon einen Eingriff in die reli¬ giöse Gestaltung des Staates bilden. Ernstlich kann also ohne Bruch mit dem Koran am Bosporus von einem verfassungsmäßigen Regiment keine Rede sein. Dieses Religionsbuch hat vielmehr seinen Anhängern eine ganz andre politische Richtung vorgeschrieben, nämlich durch Ausbreitung des Islams die Ungläubige» zu bekämpfen; zum Lohn dafür überläßt er ihnen den Besitz der unterworfenen Völker und diese selbst. Diese einfache Staatskunst haben auch die Osmanen stets geübt; sie waren niemals dazu geeignet, Reiche des Friedens zu gründen, Wohlstand und Kultur zu verbreiten. Im Gegenteil, um zu leben, mußten sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/541>, abgerufen am 01.05.2024.