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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Line Fahrt in den Grient.

das Grabmal und die Moschee des Fahnenträgers des Propheten, und deshalb
gilt der ganze Boden dieses Viertels für heilig. Ein heißersehnter Wunsch des
frommen Türken ist es, sich in diesem Viertel begraben zu lassen, und daher be¬
steht es fast nur aus Friedhöfen und bildet gleichsam die Totenstadt Stambuls.
Nicht einmal in den Vorhof dieser Moschee ist den Ungläubigen der Zutritt
geöffnet, wir mußten uns begnügen, von einem gegenüberliegenden türkischen
Cafe nur den Eingang anzusehen. Und doch ist das Volk an sich harmlos;
denn es freute sich, als wir unsre Karten ausbreiteten und die einzelnen Punkte
der Stadt bezeichneten. Noch größer aber war die Freude über die große Karte
der Türkei, aus welcher die armen Leute den Umfang ihres in Trümmer zer¬
fallenden Vaterlandes sahen.

Die Kirchhöfe ziehen sich an einem großen Hügel hinan, und so mußten
wir über eine halbe Stunde zwischen den ungeordneten Gräbern wandern, bis
wir die Höhe erreichten, von wo aus der gepriesene Blick über das goldne
Horn zu genießen ist. Ihr werdet es schon aus meinen Briefen entnommen
haben, daß keine zweite Stadt der Welt so reich an Ausblicken ist wie Konstan¬
tinopel, von denen jede dem entzückenden Auge ein neues Bild zeigt. Von
dieser Anhöhe sieht man einmal die Stadt als solche vor sich liegen, wie sie
sich an den beiden Ufern des goldnen Horns hinzieht, ohne daß Bosporus oder
Marmarameer mit ihren häuserreichen Ufern dazwischen kämen. Von hier aus
sehen wir in den goldnen Strahlen der Sonne das große Haupt des Islams
vor uns, mit dem Galata- und Seraskierturm, als den beiden Wahr¬
zeichen des Christentums und des Mohammedanismus, beide einander wie zum
Kampfe gegenüber und bereit, in jeder Minute den Waffenstillstand aufzuheben
und in den Krieg zu ziehe". Aber in der unmittelbaren Nähe war es wüst
und öde, kein Baum, kein Strauch, kein Halm, sodaß man denkt, auf einem
ausgestorbenen Krater zu stehen oder die Lavaschlacken des Vesuvs vor sich zu
haben. Da wir aber keine Freunde davon sind, einen Weg doppelt zu machen,
so beschlossen wir, uns einen Pfad über das goldne Horn zu suchen und von
dem jenseitigen Ufer unsern Rückweg anzutreten. Wir stiegen hinab bis nach
den süßen Wassern von Europa, zwei kleinen Flüssen, welchen die Aufgabe zu¬
fällt, das goldne Horn auch mit trinkbarem Wasser zu versehen. Hier ist eine
große Ebene, die im Frühjahr, wenn sie mit frischem Grün bekleidet ist, einen
beliebten Vergnügungsort der Türken bildet; heute war aber alles von der
Sonne verdorrt, und nur aus einem dunkeln Garten im Hintergrunde zeigte
sich ein Palast des Sultans, ganz versteckt und heimlich, das einzige Zeichen,
daß hier Menschen Hausen. Zwei kleine Brücken über die beiden Flüßchen
waren bald überschritten, dann aber mußten wir die öde Anhöhe hinaufklettern
und auf beschwerlichen, selbstgefundeuen Wegen durch das hügelige Terrain berg¬
auf und bergab steigen. Die Melancholie der Gegend wird hier noch durch den
weithin sich streckenden Friedhof der Juden erhöht. Welche Gefühle muß unsre


Line Fahrt in den Grient.

das Grabmal und die Moschee des Fahnenträgers des Propheten, und deshalb
gilt der ganze Boden dieses Viertels für heilig. Ein heißersehnter Wunsch des
frommen Türken ist es, sich in diesem Viertel begraben zu lassen, und daher be¬
steht es fast nur aus Friedhöfen und bildet gleichsam die Totenstadt Stambuls.
Nicht einmal in den Vorhof dieser Moschee ist den Ungläubigen der Zutritt
geöffnet, wir mußten uns begnügen, von einem gegenüberliegenden türkischen
Cafe nur den Eingang anzusehen. Und doch ist das Volk an sich harmlos;
denn es freute sich, als wir unsre Karten ausbreiteten und die einzelnen Punkte
der Stadt bezeichneten. Noch größer aber war die Freude über die große Karte
der Türkei, aus welcher die armen Leute den Umfang ihres in Trümmer zer¬
fallenden Vaterlandes sahen.

Die Kirchhöfe ziehen sich an einem großen Hügel hinan, und so mußten
wir über eine halbe Stunde zwischen den ungeordneten Gräbern wandern, bis
wir die Höhe erreichten, von wo aus der gepriesene Blick über das goldne
Horn zu genießen ist. Ihr werdet es schon aus meinen Briefen entnommen
haben, daß keine zweite Stadt der Welt so reich an Ausblicken ist wie Konstan¬
tinopel, von denen jede dem entzückenden Auge ein neues Bild zeigt. Von
dieser Anhöhe sieht man einmal die Stadt als solche vor sich liegen, wie sie
sich an den beiden Ufern des goldnen Horns hinzieht, ohne daß Bosporus oder
Marmarameer mit ihren häuserreichen Ufern dazwischen kämen. Von hier aus
sehen wir in den goldnen Strahlen der Sonne das große Haupt des Islams
vor uns, mit dem Galata- und Seraskierturm, als den beiden Wahr¬
zeichen des Christentums und des Mohammedanismus, beide einander wie zum
Kampfe gegenüber und bereit, in jeder Minute den Waffenstillstand aufzuheben
und in den Krieg zu ziehe». Aber in der unmittelbaren Nähe war es wüst
und öde, kein Baum, kein Strauch, kein Halm, sodaß man denkt, auf einem
ausgestorbenen Krater zu stehen oder die Lavaschlacken des Vesuvs vor sich zu
haben. Da wir aber keine Freunde davon sind, einen Weg doppelt zu machen,
so beschlossen wir, uns einen Pfad über das goldne Horn zu suchen und von
dem jenseitigen Ufer unsern Rückweg anzutreten. Wir stiegen hinab bis nach
den süßen Wassern von Europa, zwei kleinen Flüssen, welchen die Aufgabe zu¬
fällt, das goldne Horn auch mit trinkbarem Wasser zu versehen. Hier ist eine
große Ebene, die im Frühjahr, wenn sie mit frischem Grün bekleidet ist, einen
beliebten Vergnügungsort der Türken bildet; heute war aber alles von der
Sonne verdorrt, und nur aus einem dunkeln Garten im Hintergrunde zeigte
sich ein Palast des Sultans, ganz versteckt und heimlich, das einzige Zeichen,
daß hier Menschen Hausen. Zwei kleine Brücken über die beiden Flüßchen
waren bald überschritten, dann aber mußten wir die öde Anhöhe hinaufklettern
und auf beschwerlichen, selbstgefundeuen Wegen durch das hügelige Terrain berg¬
auf und bergab steigen. Die Melancholie der Gegend wird hier noch durch den
weithin sich streckenden Friedhof der Juden erhöht. Welche Gefühle muß unsre


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[0540] Line Fahrt in den Grient. das Grabmal und die Moschee des Fahnenträgers des Propheten, und deshalb gilt der ganze Boden dieses Viertels für heilig. Ein heißersehnter Wunsch des frommen Türken ist es, sich in diesem Viertel begraben zu lassen, und daher be¬ steht es fast nur aus Friedhöfen und bildet gleichsam die Totenstadt Stambuls. Nicht einmal in den Vorhof dieser Moschee ist den Ungläubigen der Zutritt geöffnet, wir mußten uns begnügen, von einem gegenüberliegenden türkischen Cafe nur den Eingang anzusehen. Und doch ist das Volk an sich harmlos; denn es freute sich, als wir unsre Karten ausbreiteten und die einzelnen Punkte der Stadt bezeichneten. Noch größer aber war die Freude über die große Karte der Türkei, aus welcher die armen Leute den Umfang ihres in Trümmer zer¬ fallenden Vaterlandes sahen. Die Kirchhöfe ziehen sich an einem großen Hügel hinan, und so mußten wir über eine halbe Stunde zwischen den ungeordneten Gräbern wandern, bis wir die Höhe erreichten, von wo aus der gepriesene Blick über das goldne Horn zu genießen ist. Ihr werdet es schon aus meinen Briefen entnommen haben, daß keine zweite Stadt der Welt so reich an Ausblicken ist wie Konstan¬ tinopel, von denen jede dem entzückenden Auge ein neues Bild zeigt. Von dieser Anhöhe sieht man einmal die Stadt als solche vor sich liegen, wie sie sich an den beiden Ufern des goldnen Horns hinzieht, ohne daß Bosporus oder Marmarameer mit ihren häuserreichen Ufern dazwischen kämen. Von hier aus sehen wir in den goldnen Strahlen der Sonne das große Haupt des Islams vor uns, mit dem Galata- und Seraskierturm, als den beiden Wahr¬ zeichen des Christentums und des Mohammedanismus, beide einander wie zum Kampfe gegenüber und bereit, in jeder Minute den Waffenstillstand aufzuheben und in den Krieg zu ziehe». Aber in der unmittelbaren Nähe war es wüst und öde, kein Baum, kein Strauch, kein Halm, sodaß man denkt, auf einem ausgestorbenen Krater zu stehen oder die Lavaschlacken des Vesuvs vor sich zu haben. Da wir aber keine Freunde davon sind, einen Weg doppelt zu machen, so beschlossen wir, uns einen Pfad über das goldne Horn zu suchen und von dem jenseitigen Ufer unsern Rückweg anzutreten. Wir stiegen hinab bis nach den süßen Wassern von Europa, zwei kleinen Flüssen, welchen die Aufgabe zu¬ fällt, das goldne Horn auch mit trinkbarem Wasser zu versehen. Hier ist eine große Ebene, die im Frühjahr, wenn sie mit frischem Grün bekleidet ist, einen beliebten Vergnügungsort der Türken bildet; heute war aber alles von der Sonne verdorrt, und nur aus einem dunkeln Garten im Hintergrunde zeigte sich ein Palast des Sultans, ganz versteckt und heimlich, das einzige Zeichen, daß hier Menschen Hausen. Zwei kleine Brücken über die beiden Flüßchen waren bald überschritten, dann aber mußten wir die öde Anhöhe hinaufklettern und auf beschwerlichen, selbstgefundeuen Wegen durch das hügelige Terrain berg¬ auf und bergab steigen. Die Melancholie der Gegend wird hier noch durch den weithin sich streckenden Friedhof der Juden erhöht. Welche Gefühle muß unsre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/540>, abgerufen am 15.05.2024.