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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Eine Staatsprüfung im Reiche der Mitte.

er Beschluß, in China eine Eisenbahn zu bauen und die Küste
mit der Hauptstadt des Himmelssohnes in Verbindung zu bringen,
ist wirklich gesaßt worden. Das Ereignis -- denn als ein solches
ist es zu betrachten -- wird in der Hauptsache der Einsicht und
Thatkraft des vielgenannten Marquis Tseng zugeschrieben, und
es ist nur zu wünschen, daß er auch imstande sei, diesem neuen Unternehmen
das Schicksal eines vor längerer Zeit unternommenen ähnlichen zu ersparen.
Auch damals baute mau eine Bahn, die zwei der verkehrsreichsten Orte der
Küste verbinden sollte; es dauerte aber nicht lange, und man sah sich genötigt,
aus Maugel an Zuspruch die Schienen als altes Eisen zu verkaufen.

Das neue Unternehmen nimmt das deutsche Interesse umso mehr in An¬
spruch, als dabei außer englischem auch deutsches Kapital beteiligt ist. Viel¬
leicht führt Ausdauer auch in China endlich zum Ziele; mit einem Gelingen
des Planes wäre viel gewonnen, denn man könnte der Hoffnung Raum geben,
daß wenigstens das nächste Geschlecht, mit dem Anfang des neuen Jahrhunderts,
einen Schimmer europäischer Zivilisation auch im himmlischen Reiche erlebte.

In einer Zeit, wo Fortschritte in der Verkehrsentwicklung so selbstver¬
ständlich und so zum Gemeingut geworden sind wie heute, pflegt mau Anfänge
wie die obenerwähnten für entscheidend zu halten. Man möchte an ihrer Be¬
deutung nicht zweifeln, und doch übersieht man nur zu leicht, daß man es hier
mit einem Lande zu thun hat, welches an einer mehr als tausendjährigen, fast
unwandelbaren Verknöcherung leidet.

In der zwischen dem zehnten und dreizehnten Jahrhundert liegenden Zeit
war in China eine Dynastie zur Herrschaft gekommen, die sich durch Liebe zu
Wissenschaft und Kunst auszeichnete. Das waren die Kaiser ans dem Geschlechte
der Song. Unter ihnen wurde, und zwar schon im Jahre 930, die Buch-
druckerkunst in China eingeführt; auch die Freiheit des Denkens und der Ver¬
kehr mit fremden Völkern wurde von ihnen gefördert. Aber wenngleich die
Herrschaft und der Einfluß dieser aufgeklärten Kaiser einige Jahrhunderte ge¬
dauert hat, konnte ihr besserndes Streben doch niemals festen Fuß gewinnen.
Sie waren nicht nur fortwährenden Anfeindungen ausgesetzt, sondern es trat
auch nach ihrem Verschwinden eine desto heftiger und nachhaltiger wirkende
Nückströmung ein. Den songs folgten die Mongolen Dschindschiskhcms. Auch
sie leisteten der bisherigen aufgeklärten Richtung -- soweit es den Verkehr mit
Fremden betraf -- noch Vorschub, zu ihrer Zeit kamen sogar noch christliche
Bischöfe als Missionare nach China, auch Marco Polo's Reise war unter


Eine Staatsprüfung im Reiche der Mitte.

er Beschluß, in China eine Eisenbahn zu bauen und die Küste
mit der Hauptstadt des Himmelssohnes in Verbindung zu bringen,
ist wirklich gesaßt worden. Das Ereignis — denn als ein solches
ist es zu betrachten — wird in der Hauptsache der Einsicht und
Thatkraft des vielgenannten Marquis Tseng zugeschrieben, und
es ist nur zu wünschen, daß er auch imstande sei, diesem neuen Unternehmen
das Schicksal eines vor längerer Zeit unternommenen ähnlichen zu ersparen.
Auch damals baute mau eine Bahn, die zwei der verkehrsreichsten Orte der
Küste verbinden sollte; es dauerte aber nicht lange, und man sah sich genötigt,
aus Maugel an Zuspruch die Schienen als altes Eisen zu verkaufen.

Das neue Unternehmen nimmt das deutsche Interesse umso mehr in An¬
spruch, als dabei außer englischem auch deutsches Kapital beteiligt ist. Viel¬
leicht führt Ausdauer auch in China endlich zum Ziele; mit einem Gelingen
des Planes wäre viel gewonnen, denn man könnte der Hoffnung Raum geben,
daß wenigstens das nächste Geschlecht, mit dem Anfang des neuen Jahrhunderts,
einen Schimmer europäischer Zivilisation auch im himmlischen Reiche erlebte.

In einer Zeit, wo Fortschritte in der Verkehrsentwicklung so selbstver¬
ständlich und so zum Gemeingut geworden sind wie heute, pflegt mau Anfänge
wie die obenerwähnten für entscheidend zu halten. Man möchte an ihrer Be¬
deutung nicht zweifeln, und doch übersieht man nur zu leicht, daß man es hier
mit einem Lande zu thun hat, welches an einer mehr als tausendjährigen, fast
unwandelbaren Verknöcherung leidet.

In der zwischen dem zehnten und dreizehnten Jahrhundert liegenden Zeit
war in China eine Dynastie zur Herrschaft gekommen, die sich durch Liebe zu
Wissenschaft und Kunst auszeichnete. Das waren die Kaiser ans dem Geschlechte
der Song. Unter ihnen wurde, und zwar schon im Jahre 930, die Buch-
druckerkunst in China eingeführt; auch die Freiheit des Denkens und der Ver¬
kehr mit fremden Völkern wurde von ihnen gefördert. Aber wenngleich die
Herrschaft und der Einfluß dieser aufgeklärten Kaiser einige Jahrhunderte ge¬
dauert hat, konnte ihr besserndes Streben doch niemals festen Fuß gewinnen.
Sie waren nicht nur fortwährenden Anfeindungen ausgesetzt, sondern es trat
auch nach ihrem Verschwinden eine desto heftiger und nachhaltiger wirkende
Nückströmung ein. Den songs folgten die Mongolen Dschindschiskhcms. Auch
sie leisteten der bisherigen aufgeklärten Richtung — soweit es den Verkehr mit
Fremden betraf — noch Vorschub, zu ihrer Zeit kamen sogar noch christliche
Bischöfe als Missionare nach China, auch Marco Polo's Reise war unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/94>, abgerufen am 01.05.2024.