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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Will, d. h. als Flamme, die zugespitzt nach oben dringt aus der Zerstörung
heraus.

So also schon im Divan, in den zwanziger Jahren, wie soll da der Vers
von 1831 uugoethisch sein können oder müssen? Er muß aber, wie gesagt, älter
sein. Die zwei letzten Verse des Gedichtes "Selige Sehnsucht" siud, wie schon
bemerkt, Nachträge zu den drei ersten, als solche erkennbar an dem jedesmal
andern Stropheubcm, und unser Vers ist ein dritter Nachtrag, den er einmal
dem mit dem "Stirb und werde!" als andre, näher liegende Unterlage voraus¬
schickte, wieder mit anderm Ban, während als solche im Divan ein Vers vom
Schmetterlinge dient, der die Flamme sucht, wobei eine Art Sprung des Ge¬
dankens Wohl auffallen kann. Das Divangcdicht wuchs so in seinen Gedanken
weiter, von verschiednen Gelegenheiten seiner innern Erfahrung veranlaßt.

Wenn sich niemand den Goethe des Lebens wird rauben lassen wollen,
der im Gegensatz zu der vorherigen Weltflucht (von der er doch auch uoch genug
angewandelt wurde) sich mit festen Füße" auf diese Erde stellt, um sie aus
dem alten Jammerthal in ein Lebensthal umsetzen zu helfen, so darf man doch
darüber den weiter strebenden Goethe nicht wegwerfen wollen, der schon früh
aus diesem Thal mit seiner sauern Arbeit von Zeit zu Zeit auf die Höhen
stieg, um da in großem Überblick über das Ganze einmal sich selbst und Gott
und der ewigen Idee der Menschheit näher zu sein, als es in dem Ringen
hienieden möglich ist. Und wenn er sich in alten Jahren immer mehr diese
Höhen des heiteren Überblickes noch weiter erhöhte bis in den Äther hinein, so
spricht auch da aus ihm der Goethe der eigensten Erfahrung, der zuletzt uur
sich selbst und dem eignen Erleben vertraute. Auch das ist keine Lebensstunde,
ja keine Weltflucht, wenn man nur die Welt höher faßt, er suchte aber auch
im Sterben das Leben, ein höheres, helleres, größeres, das dem erhöhten Ich
nun Bedürfnis wurde. Ihm waren das Diesseits und das Jenseits auch nicht
auscinandergerisseue verschiedne Welten, nur eine Schwelle zwischen beiden, der
Tod als Übergang. Aber auch diesen Übergang strebte er in seinem Fühlen
schon früh los zu werden, z. B. in dem Leipziger Gedichte "Wahrer Genuß,"
der da noch ganz in der Liebe gesucht wird, um Schlüsse:


Der Tod führt einst von ihrer Seite
Dich auf zum englischen Gesang,
Dich zu des Paradieses Freude,
Und du fühlst keinen Übergang.



Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Will, d. h. als Flamme, die zugespitzt nach oben dringt aus der Zerstörung
heraus.

So also schon im Divan, in den zwanziger Jahren, wie soll da der Vers
von 1831 uugoethisch sein können oder müssen? Er muß aber, wie gesagt, älter
sein. Die zwei letzten Verse des Gedichtes „Selige Sehnsucht" siud, wie schon
bemerkt, Nachträge zu den drei ersten, als solche erkennbar an dem jedesmal
andern Stropheubcm, und unser Vers ist ein dritter Nachtrag, den er einmal
dem mit dem „Stirb und werde!" als andre, näher liegende Unterlage voraus¬
schickte, wieder mit anderm Ban, während als solche im Divan ein Vers vom
Schmetterlinge dient, der die Flamme sucht, wobei eine Art Sprung des Ge¬
dankens Wohl auffallen kann. Das Divangcdicht wuchs so in seinen Gedanken
weiter, von verschiednen Gelegenheiten seiner innern Erfahrung veranlaßt.

Wenn sich niemand den Goethe des Lebens wird rauben lassen wollen,
der im Gegensatz zu der vorherigen Weltflucht (von der er doch auch uoch genug
angewandelt wurde) sich mit festen Füße» auf diese Erde stellt, um sie aus
dem alten Jammerthal in ein Lebensthal umsetzen zu helfen, so darf man doch
darüber den weiter strebenden Goethe nicht wegwerfen wollen, der schon früh
aus diesem Thal mit seiner sauern Arbeit von Zeit zu Zeit auf die Höhen
stieg, um da in großem Überblick über das Ganze einmal sich selbst und Gott
und der ewigen Idee der Menschheit näher zu sein, als es in dem Ringen
hienieden möglich ist. Und wenn er sich in alten Jahren immer mehr diese
Höhen des heiteren Überblickes noch weiter erhöhte bis in den Äther hinein, so
spricht auch da aus ihm der Goethe der eigensten Erfahrung, der zuletzt uur
sich selbst und dem eignen Erleben vertraute. Auch das ist keine Lebensstunde,
ja keine Weltflucht, wenn man nur die Welt höher faßt, er suchte aber auch
im Sterben das Leben, ein höheres, helleres, größeres, das dem erhöhten Ich
nun Bedürfnis wurde. Ihm waren das Diesseits und das Jenseits auch nicht
auscinandergerisseue verschiedne Welten, nur eine Schwelle zwischen beiden, der
Tod als Übergang. Aber auch diesen Übergang strebte er in seinem Fühlen
schon früh los zu werden, z. B. in dem Leipziger Gedichte „Wahrer Genuß,"
der da noch ganz in der Liebe gesucht wird, um Schlüsse:


Der Tod führt einst von ihrer Seite
Dich auf zum englischen Gesang,
Dich zu des Paradieses Freude,
Und du fühlst keinen Übergang.



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[0093] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Will, d. h. als Flamme, die zugespitzt nach oben dringt aus der Zerstörung heraus. So also schon im Divan, in den zwanziger Jahren, wie soll da der Vers von 1831 uugoethisch sein können oder müssen? Er muß aber, wie gesagt, älter sein. Die zwei letzten Verse des Gedichtes „Selige Sehnsucht" siud, wie schon bemerkt, Nachträge zu den drei ersten, als solche erkennbar an dem jedesmal andern Stropheubcm, und unser Vers ist ein dritter Nachtrag, den er einmal dem mit dem „Stirb und werde!" als andre, näher liegende Unterlage voraus¬ schickte, wieder mit anderm Ban, während als solche im Divan ein Vers vom Schmetterlinge dient, der die Flamme sucht, wobei eine Art Sprung des Ge¬ dankens Wohl auffallen kann. Das Divangcdicht wuchs so in seinen Gedanken weiter, von verschiednen Gelegenheiten seiner innern Erfahrung veranlaßt. Wenn sich niemand den Goethe des Lebens wird rauben lassen wollen, der im Gegensatz zu der vorherigen Weltflucht (von der er doch auch uoch genug angewandelt wurde) sich mit festen Füße» auf diese Erde stellt, um sie aus dem alten Jammerthal in ein Lebensthal umsetzen zu helfen, so darf man doch darüber den weiter strebenden Goethe nicht wegwerfen wollen, der schon früh aus diesem Thal mit seiner sauern Arbeit von Zeit zu Zeit auf die Höhen stieg, um da in großem Überblick über das Ganze einmal sich selbst und Gott und der ewigen Idee der Menschheit näher zu sein, als es in dem Ringen hienieden möglich ist. Und wenn er sich in alten Jahren immer mehr diese Höhen des heiteren Überblickes noch weiter erhöhte bis in den Äther hinein, so spricht auch da aus ihm der Goethe der eigensten Erfahrung, der zuletzt uur sich selbst und dem eignen Erleben vertraute. Auch das ist keine Lebensstunde, ja keine Weltflucht, wenn man nur die Welt höher faßt, er suchte aber auch im Sterben das Leben, ein höheres, helleres, größeres, das dem erhöhten Ich nun Bedürfnis wurde. Ihm waren das Diesseits und das Jenseits auch nicht auscinandergerisseue verschiedne Welten, nur eine Schwelle zwischen beiden, der Tod als Übergang. Aber auch diesen Übergang strebte er in seinem Fühlen schon früh los zu werden, z. B. in dem Leipziger Gedichte „Wahrer Genuß," der da noch ganz in der Liebe gesucht wird, um Schlüsse: Der Tod führt einst von ihrer Seite Dich auf zum englischen Gesang, Dich zu des Paradieses Freude, Und du fühlst keinen Übergang.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/93>, abgerufen am 15.05.2024.