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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Ein erfreuliches Stück Autoritätsglaubens.

erkannt. Ist heute die Sachlage etwa anders geworden? Überdies würden
die stets sich wiederholenden gerichtlichen Verhandlungen den mannichfachsten
Stoff zu neuen Agitationen geben. Allwöchentlich würde man in den Zeitungen
von solchen Verhandlungen lesen. Das wäre noch weit schlimmer, als die alle
Zwei Jahre sich wiederholende Verhandlung über den Fortbestand des Sozialisten-
gesctzes im Reichstage.

So lange uns nicht "gemeinrechtliche" Gesetzesparagraphen formulirt vor¬
liegen, welche die Sicherheit gewähren, gleiche Wirksamkeit wie das Sozialisten¬
gesetz zu üben, würden wir das Aufgeben dieses Gesetzes für einen schweren
Fehler halten. Das Gesetz wird, mag auch der Reichstag immer nur auf
kurze Zeit seine Verlängerung bewilligen, noch lange Jahre fortbestehen müssen.
Vermag es auch zunächst nur eine äußere Ruhe herzustellen, so ist doch schon
dadurch für die öffentliche Gesittung und Ordnung unendlich viel gewonnen.




Gin erfreuliches ^duck Autoritätsglaubens.

nsre Zeit leidet an einem Überflusse, von Weltverbesserern und
Krittlern und verkümmert insbesondre uns Deutschen dadurch
häufig die Frende an den Errungenschaften der zweiten Hälfte
unsers Jahrhunderts. Überall tauchen in Büchern, Zeitungen und
Zeitschriften Verbesserungsvorschläge auf, deren Urheber eifrig
versichern, damit die Lücken des Weltbaues verstopfen zu können; wenn man
ihnen mir folge, so würden alle Klagen in diesem Jammerthale verstummen.

Es wäre besser, man ließe, statt immer zu rütteln, statt immer ausbessern
und flicken zu wollen, statt an Wunden, die von selbst verharschen, zu zerren,
die Dinge langsam ausreifen und sich ausheilen, und erwöge, daß so manche
hart bekämpfte Einrichtung, so mancher angeblich tief zu beklagende Zustand
doch immer von vernünftigen Menschen geschaffen ist und aufrecht erhalten wird,
sodciß man Veranlassung hat, die eigne Weisheit doppelt und dreifach zu prüfen,
ehe man sie auf dem Markte des Lebens aufbietet.

Ein Teil dieses Vorwurfes fällt auch auf den Verfasser des kürzlich in
diesen Blättern erschienenen Aufsatzes: "Ein Übelstand in der deutschen Rechts¬
pflege," so treffend auch sein Tadel gegen den "Präjudizicnkultus" und die
"Motivenanbeterei" deutscher Gerichte in mancher Beziehung leider ist. Aber der
Verfasser, der diesen Fehler so grell ins Licht der öffentlichen Besprechung stellt,


Ein erfreuliches Stück Autoritätsglaubens.

erkannt. Ist heute die Sachlage etwa anders geworden? Überdies würden
die stets sich wiederholenden gerichtlichen Verhandlungen den mannichfachsten
Stoff zu neuen Agitationen geben. Allwöchentlich würde man in den Zeitungen
von solchen Verhandlungen lesen. Das wäre noch weit schlimmer, als die alle
Zwei Jahre sich wiederholende Verhandlung über den Fortbestand des Sozialisten-
gesctzes im Reichstage.

So lange uns nicht „gemeinrechtliche" Gesetzesparagraphen formulirt vor¬
liegen, welche die Sicherheit gewähren, gleiche Wirksamkeit wie das Sozialisten¬
gesetz zu üben, würden wir das Aufgeben dieses Gesetzes für einen schweren
Fehler halten. Das Gesetz wird, mag auch der Reichstag immer nur auf
kurze Zeit seine Verlängerung bewilligen, noch lange Jahre fortbestehen müssen.
Vermag es auch zunächst nur eine äußere Ruhe herzustellen, so ist doch schon
dadurch für die öffentliche Gesittung und Ordnung unendlich viel gewonnen.




Gin erfreuliches ^duck Autoritätsglaubens.

nsre Zeit leidet an einem Überflusse, von Weltverbesserern und
Krittlern und verkümmert insbesondre uns Deutschen dadurch
häufig die Frende an den Errungenschaften der zweiten Hälfte
unsers Jahrhunderts. Überall tauchen in Büchern, Zeitungen und
Zeitschriften Verbesserungsvorschläge auf, deren Urheber eifrig
versichern, damit die Lücken des Weltbaues verstopfen zu können; wenn man
ihnen mir folge, so würden alle Klagen in diesem Jammerthale verstummen.

Es wäre besser, man ließe, statt immer zu rütteln, statt immer ausbessern
und flicken zu wollen, statt an Wunden, die von selbst verharschen, zu zerren,
die Dinge langsam ausreifen und sich ausheilen, und erwöge, daß so manche
hart bekämpfte Einrichtung, so mancher angeblich tief zu beklagende Zustand
doch immer von vernünftigen Menschen geschaffen ist und aufrecht erhalten wird,
sodciß man Veranlassung hat, die eigne Weisheit doppelt und dreifach zu prüfen,
ehe man sie auf dem Markte des Lebens aufbietet.

Ein Teil dieses Vorwurfes fällt auch auf den Verfasser des kürzlich in
diesen Blättern erschienenen Aufsatzes: „Ein Übelstand in der deutschen Rechts¬
pflege," so treffend auch sein Tadel gegen den „Präjudizicnkultus" und die
"Motivenanbeterei" deutscher Gerichte in mancher Beziehung leider ist. Aber der
Verfasser, der diesen Fehler so grell ins Licht der öffentlichen Besprechung stellt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/535>, abgerufen am 01.05.2024.