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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Das Sozialistengesetz und die Rückkehr zum gemeinen Recht.

den Schein in Anspruch nehmen können, als wären sie eine ganz auf dem
Boden des Gesetzes stehende Partei. Daß die sozialdemokratische Lehre im
Volke verschwinden werde, ist noch im Laufe langer Jahre nicht zu erwarten.
Aber die Achtung, welche die sozialistische Agitation durch das Gesetz erlitten
hat, ist unzweifelhaft der äußern Ordnung wesentlich zu gute gekommen. Darüber
kann gar kein Zweifel sein. Galle es, einen Beweis zu führen, daß das Gesetz
der Sozialdemokratie in ihren Bestrebungen Abbruch thut, so läge er schon in
dem Wutschnauben, mit welchem die Sozialisten im Reichstage wider das Gesetz
eifern.

Wir können aber auch die für dieses Ziel angewandten Mittel nach Lage
der Verhältnisse nicht zu hart finden. Preßfreiheit und Vereins- und Ver-
sammluugsrechte sind keine Urrechte der Menschheit. Das Gesetz hat sie gegeben,
weil man davon ausgehen darf, daß die darin liegende FreiheitM allgemeinen
der Fortentwicklung des Menschengeschlechtes förderlich sei. Wo diese Annahme
so sehr durch die Thatsache widerlegt wird, wie bei der sozialistischen Agitation,
da bildet die Aufrechthaltung dieser Rechte einen Spott der Freiheit. Der Welt
geschieht kein Schade, wenn sie über die bereits hinlänglich bekannten sozia¬
listischen Lehren nicht stets von neuem in demagogischen Schriften und Reden
unterrichtet wird. Einer Erörterung dieser Lehren in gemäßigter Form steht
auch heute noch nichts im Wege, wie der Bestand vieler im Laufe der letzten
zehn Jahre erschienenen Bücher beweist. Die härteste Maßregel des Sozialisten¬
gesetzes ist ohne Zweifel die Befugnis zur Ausweisung aus den Städten des
kleinen Belagerungszustandes. Auch wir wünschten, daß diese Ausweisung ent¬
behrlich sein möchte. Sie bildet aber in der That nur die Kehrseite davon,
daß durch die Freizügigkeitsgesetze alle Mittel weggefallen sind, um die An¬
sammlung der schlechtesten Elemente in den Großstädten zu hindern.

Betrachten wir nun, wie die Folgen sein würden, wenn man zum "ge¬
meinen Rechte" zurückkehrte und damit der öffentlichen Agitation der Sozial¬
demokratie wieder ein breites Strombett eröffnete. Zunächst ist es ein gründ¬
licher Irrtum, wenn man glaubt, daß damit der geheimen Agitation ein Ende
gemacht sein werde. Diese würde mit allem Häßlichen, was daran hängt, neben
der öffentlichen fortbestehen, da die letztere ohne Zweifel die Ziele der Sozial¬
demokraten -- von den Anarchisten gar nicht zu reden -- nicht erschöpfen
würde. Durch die freigegebene öffentliche würde die geheime Agitation nur
einen gewaltigen Vorsprung gewonnen haben. Ferner: der Schutz der öffent¬
lichen Ordnung durch Spruch des Strafrichters würde sich, dem ungeheuern
Andrängen gegenüber, welches die lange zurückgehaltene Agitation sofort nach
Aufhebung des Gesetzes bethätigen würde, als völlig lahm erweisen. Bereits
bei Schaffung des Sozialistengesetzes (1878) wurde im Reichstage die Frage
erwogen, ob man nicht die Repressivmaßregeln des Gesetzes besser dem Richter
übertrage. Es wurde dies aber, soweit wir wissen, allgemein für ungeeignet


Das Sozialistengesetz und die Rückkehr zum gemeinen Recht.

den Schein in Anspruch nehmen können, als wären sie eine ganz auf dem
Boden des Gesetzes stehende Partei. Daß die sozialdemokratische Lehre im
Volke verschwinden werde, ist noch im Laufe langer Jahre nicht zu erwarten.
Aber die Achtung, welche die sozialistische Agitation durch das Gesetz erlitten
hat, ist unzweifelhaft der äußern Ordnung wesentlich zu gute gekommen. Darüber
kann gar kein Zweifel sein. Galle es, einen Beweis zu führen, daß das Gesetz
der Sozialdemokratie in ihren Bestrebungen Abbruch thut, so läge er schon in
dem Wutschnauben, mit welchem die Sozialisten im Reichstage wider das Gesetz
eifern.

Wir können aber auch die für dieses Ziel angewandten Mittel nach Lage
der Verhältnisse nicht zu hart finden. Preßfreiheit und Vereins- und Ver-
sammluugsrechte sind keine Urrechte der Menschheit. Das Gesetz hat sie gegeben,
weil man davon ausgehen darf, daß die darin liegende FreiheitM allgemeinen
der Fortentwicklung des Menschengeschlechtes förderlich sei. Wo diese Annahme
so sehr durch die Thatsache widerlegt wird, wie bei der sozialistischen Agitation,
da bildet die Aufrechthaltung dieser Rechte einen Spott der Freiheit. Der Welt
geschieht kein Schade, wenn sie über die bereits hinlänglich bekannten sozia¬
listischen Lehren nicht stets von neuem in demagogischen Schriften und Reden
unterrichtet wird. Einer Erörterung dieser Lehren in gemäßigter Form steht
auch heute noch nichts im Wege, wie der Bestand vieler im Laufe der letzten
zehn Jahre erschienenen Bücher beweist. Die härteste Maßregel des Sozialisten¬
gesetzes ist ohne Zweifel die Befugnis zur Ausweisung aus den Städten des
kleinen Belagerungszustandes. Auch wir wünschten, daß diese Ausweisung ent¬
behrlich sein möchte. Sie bildet aber in der That nur die Kehrseite davon,
daß durch die Freizügigkeitsgesetze alle Mittel weggefallen sind, um die An¬
sammlung der schlechtesten Elemente in den Großstädten zu hindern.

Betrachten wir nun, wie die Folgen sein würden, wenn man zum „ge¬
meinen Rechte" zurückkehrte und damit der öffentlichen Agitation der Sozial¬
demokratie wieder ein breites Strombett eröffnete. Zunächst ist es ein gründ¬
licher Irrtum, wenn man glaubt, daß damit der geheimen Agitation ein Ende
gemacht sein werde. Diese würde mit allem Häßlichen, was daran hängt, neben
der öffentlichen fortbestehen, da die letztere ohne Zweifel die Ziele der Sozial¬
demokraten — von den Anarchisten gar nicht zu reden — nicht erschöpfen
würde. Durch die freigegebene öffentliche würde die geheime Agitation nur
einen gewaltigen Vorsprung gewonnen haben. Ferner: der Schutz der öffent¬
lichen Ordnung durch Spruch des Strafrichters würde sich, dem ungeheuern
Andrängen gegenüber, welches die lange zurückgehaltene Agitation sofort nach
Aufhebung des Gesetzes bethätigen würde, als völlig lahm erweisen. Bereits
bei Schaffung des Sozialistengesetzes (1878) wurde im Reichstage die Frage
erwogen, ob man nicht die Repressivmaßregeln des Gesetzes besser dem Richter
übertrage. Es wurde dies aber, soweit wir wissen, allgemein für ungeeignet


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[0534] Das Sozialistengesetz und die Rückkehr zum gemeinen Recht. den Schein in Anspruch nehmen können, als wären sie eine ganz auf dem Boden des Gesetzes stehende Partei. Daß die sozialdemokratische Lehre im Volke verschwinden werde, ist noch im Laufe langer Jahre nicht zu erwarten. Aber die Achtung, welche die sozialistische Agitation durch das Gesetz erlitten hat, ist unzweifelhaft der äußern Ordnung wesentlich zu gute gekommen. Darüber kann gar kein Zweifel sein. Galle es, einen Beweis zu führen, daß das Gesetz der Sozialdemokratie in ihren Bestrebungen Abbruch thut, so läge er schon in dem Wutschnauben, mit welchem die Sozialisten im Reichstage wider das Gesetz eifern. Wir können aber auch die für dieses Ziel angewandten Mittel nach Lage der Verhältnisse nicht zu hart finden. Preßfreiheit und Vereins- und Ver- sammluugsrechte sind keine Urrechte der Menschheit. Das Gesetz hat sie gegeben, weil man davon ausgehen darf, daß die darin liegende FreiheitM allgemeinen der Fortentwicklung des Menschengeschlechtes förderlich sei. Wo diese Annahme so sehr durch die Thatsache widerlegt wird, wie bei der sozialistischen Agitation, da bildet die Aufrechthaltung dieser Rechte einen Spott der Freiheit. Der Welt geschieht kein Schade, wenn sie über die bereits hinlänglich bekannten sozia¬ listischen Lehren nicht stets von neuem in demagogischen Schriften und Reden unterrichtet wird. Einer Erörterung dieser Lehren in gemäßigter Form steht auch heute noch nichts im Wege, wie der Bestand vieler im Laufe der letzten zehn Jahre erschienenen Bücher beweist. Die härteste Maßregel des Sozialisten¬ gesetzes ist ohne Zweifel die Befugnis zur Ausweisung aus den Städten des kleinen Belagerungszustandes. Auch wir wünschten, daß diese Ausweisung ent¬ behrlich sein möchte. Sie bildet aber in der That nur die Kehrseite davon, daß durch die Freizügigkeitsgesetze alle Mittel weggefallen sind, um die An¬ sammlung der schlechtesten Elemente in den Großstädten zu hindern. Betrachten wir nun, wie die Folgen sein würden, wenn man zum „ge¬ meinen Rechte" zurückkehrte und damit der öffentlichen Agitation der Sozial¬ demokratie wieder ein breites Strombett eröffnete. Zunächst ist es ein gründ¬ licher Irrtum, wenn man glaubt, daß damit der geheimen Agitation ein Ende gemacht sein werde. Diese würde mit allem Häßlichen, was daran hängt, neben der öffentlichen fortbestehen, da die letztere ohne Zweifel die Ziele der Sozial¬ demokraten — von den Anarchisten gar nicht zu reden — nicht erschöpfen würde. Durch die freigegebene öffentliche würde die geheime Agitation nur einen gewaltigen Vorsprung gewonnen haben. Ferner: der Schutz der öffent¬ lichen Ordnung durch Spruch des Strafrichters würde sich, dem ungeheuern Andrängen gegenüber, welches die lange zurückgehaltene Agitation sofort nach Aufhebung des Gesetzes bethätigen würde, als völlig lahm erweisen. Bereits bei Schaffung des Sozialistengesetzes (1878) wurde im Reichstage die Frage erwogen, ob man nicht die Repressivmaßregeln des Gesetzes besser dem Richter übertrage. Es wurde dies aber, soweit wir wissen, allgemein für ungeeignet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/534>, abgerufen am 22.05.2024.