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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr.

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Kultur und Technik.

Wie anders tragen uns die Geistesfreuden
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternächte hold und schön,
Ein selig Leben wärmet alle Glieder,
Und ach! entrollst dn gar ein würdig Pergamen,
So steigt der ganze Himmel zu dir nieder.

Faust.

or einigen Jahren hat Dubois-Reymond in seiner Rede "Goethe
und kein Ende" eine Ehrenrettung des Famulus Wagner versucht,
aber wenig Dank dafür geerntet. Nun erscheint ein zweiter Mann,
der gelegentlich dasselbe thut, aber in einer Weise lind in einem
Zusammenhange, daß dieselbe Sache ein ganz andres Ansehen ge¬
wiant. "Wir müsse" dem Famulus Recht geben," sagt er. "Obwohl wir die
dcgradirende Ausdrucksweise ,wie anders" nicht annehmen und, uns vor Ein¬
seitigkeit hudert, jedes große Gefühl gelten lassen, also auch die Sehnsucht nach
des ,Vogels Fittigen', von der Faust spricht, hat der Famulus mit seinem Ge¬
fühle dennoch Recht. Die tägliche Erfahrung belehrt uns darüber, daß er wahr
spricht, der Weg ,von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt' ist in der That einer der
herrlichsten Wege, den der Mensch gehen kann, und man sollte diesen Ausspruch
Wagners nicht mehr, wie üblich, satirisch auffassen und zitiren; denn so wie er
an und für sich dasteht, ist er richtig, wenn auch speziell für Faust die Periode
der ästhetischen Genußfähigkeit durch die Wissenschaft vorüber ist." Der Mann,
der diese Verteidigung des Famulus Wagner unternommen hat, ist Joseph Popper,
und die Schrift, in der sie zu finden ist, nennt sich: Die technischen Fortschritte
nach ihrer ästhetischen und kulturellen (so!) Bedeutung (Leipzig, Reißner, 1888).

Joseph Popper ist Ingenieur und lebt als Privatgelehrter in Wien. Seine
Thätigkeit ist vielseitig, bald der Elektrotechnik, bald den Problemen der Lnftschiff-
fcchrt u. c>. ni. gewidmet. In seinen Fachkreisen genießt er eines ausgezeichneten
wissenschaftlichen Rufes. Aus diesen Kreisen nun eine Schrift, wie die vorliegende,
über eine der schwierigsten kunst- und geschichtsphilosophischen Aufgaben zu
empfangen, ist man nicht gerade gewohnt. Die Männer der mathematischen
Wissenschaften sind Wohl zuweilen selbst ästhetisch fesselnde Gestalten geworden,
aber selten haben sie Sinn für Kunst und Poesie bekundet. Es scheint, daß
Mathematik und Poesie sich einander ausschließen, wie das Beispiel Goethes




Kultur und Technik.

Wie anders tragen uns die Geistesfreuden
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternächte hold und schön,
Ein selig Leben wärmet alle Glieder,
Und ach! entrollst dn gar ein würdig Pergamen,
So steigt der ganze Himmel zu dir nieder.

Faust.

or einigen Jahren hat Dubois-Reymond in seiner Rede „Goethe
und kein Ende" eine Ehrenrettung des Famulus Wagner versucht,
aber wenig Dank dafür geerntet. Nun erscheint ein zweiter Mann,
der gelegentlich dasselbe thut, aber in einer Weise lind in einem
Zusammenhange, daß dieselbe Sache ein ganz andres Ansehen ge¬
wiant. „Wir müsse» dem Famulus Recht geben," sagt er. „Obwohl wir die
dcgradirende Ausdrucksweise ,wie anders« nicht annehmen und, uns vor Ein¬
seitigkeit hudert, jedes große Gefühl gelten lassen, also auch die Sehnsucht nach
des ,Vogels Fittigen', von der Faust spricht, hat der Famulus mit seinem Ge¬
fühle dennoch Recht. Die tägliche Erfahrung belehrt uns darüber, daß er wahr
spricht, der Weg ,von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt' ist in der That einer der
herrlichsten Wege, den der Mensch gehen kann, und man sollte diesen Ausspruch
Wagners nicht mehr, wie üblich, satirisch auffassen und zitiren; denn so wie er
an und für sich dasteht, ist er richtig, wenn auch speziell für Faust die Periode
der ästhetischen Genußfähigkeit durch die Wissenschaft vorüber ist." Der Mann,
der diese Verteidigung des Famulus Wagner unternommen hat, ist Joseph Popper,
und die Schrift, in der sie zu finden ist, nennt sich: Die technischen Fortschritte
nach ihrer ästhetischen und kulturellen (so!) Bedeutung (Leipzig, Reißner, 1888).

Joseph Popper ist Ingenieur und lebt als Privatgelehrter in Wien. Seine
Thätigkeit ist vielseitig, bald der Elektrotechnik, bald den Problemen der Lnftschiff-
fcchrt u. c>. ni. gewidmet. In seinen Fachkreisen genießt er eines ausgezeichneten
wissenschaftlichen Rufes. Aus diesen Kreisen nun eine Schrift, wie die vorliegende,
über eine der schwierigsten kunst- und geschichtsphilosophischen Aufgaben zu
empfangen, ist man nicht gerade gewohnt. Die Männer der mathematischen
Wissenschaften sind Wohl zuweilen selbst ästhetisch fesselnde Gestalten geworden,
aber selten haben sie Sinn für Kunst und Poesie bekundet. Es scheint, daß
Mathematik und Poesie sich einander ausschließen, wie das Beispiel Goethes


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[0172] [Abbildung] Kultur und Technik. Wie anders tragen uns die Geistesfreuden Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt! Da werden Winternächte hold und schön, Ein selig Leben wärmet alle Glieder, Und ach! entrollst dn gar ein würdig Pergamen, So steigt der ganze Himmel zu dir nieder. Faust. or einigen Jahren hat Dubois-Reymond in seiner Rede „Goethe und kein Ende" eine Ehrenrettung des Famulus Wagner versucht, aber wenig Dank dafür geerntet. Nun erscheint ein zweiter Mann, der gelegentlich dasselbe thut, aber in einer Weise lind in einem Zusammenhange, daß dieselbe Sache ein ganz andres Ansehen ge¬ wiant. „Wir müsse» dem Famulus Recht geben," sagt er. „Obwohl wir die dcgradirende Ausdrucksweise ,wie anders« nicht annehmen und, uns vor Ein¬ seitigkeit hudert, jedes große Gefühl gelten lassen, also auch die Sehnsucht nach des ,Vogels Fittigen', von der Faust spricht, hat der Famulus mit seinem Ge¬ fühle dennoch Recht. Die tägliche Erfahrung belehrt uns darüber, daß er wahr spricht, der Weg ,von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt' ist in der That einer der herrlichsten Wege, den der Mensch gehen kann, und man sollte diesen Ausspruch Wagners nicht mehr, wie üblich, satirisch auffassen und zitiren; denn so wie er an und für sich dasteht, ist er richtig, wenn auch speziell für Faust die Periode der ästhetischen Genußfähigkeit durch die Wissenschaft vorüber ist." Der Mann, der diese Verteidigung des Famulus Wagner unternommen hat, ist Joseph Popper, und die Schrift, in der sie zu finden ist, nennt sich: Die technischen Fortschritte nach ihrer ästhetischen und kulturellen (so!) Bedeutung (Leipzig, Reißner, 1888). Joseph Popper ist Ingenieur und lebt als Privatgelehrter in Wien. Seine Thätigkeit ist vielseitig, bald der Elektrotechnik, bald den Problemen der Lnftschiff- fcchrt u. c>. ni. gewidmet. In seinen Fachkreisen genießt er eines ausgezeichneten wissenschaftlichen Rufes. Aus diesen Kreisen nun eine Schrift, wie die vorliegende, über eine der schwierigsten kunst- und geschichtsphilosophischen Aufgaben zu empfangen, ist man nicht gerade gewohnt. Die Männer der mathematischen Wissenschaften sind Wohl zuweilen selbst ästhetisch fesselnde Gestalten geworden, aber selten haben sie Sinn für Kunst und Poesie bekundet. Es scheint, daß Mathematik und Poesie sich einander ausschließen, wie das Beispiel Goethes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_203434/172>, abgerufen am 05.05.2024.